Nein – Schäfchenwölkchen sind das
wirklich nicht. Die wattig-weißen
Gebilde erinnern eher an riesige
Hammel, die in einer großen Herde
friedlich am Himmel über der Küste
weiden. Weshalb der Mittdreißiger
auf dem Deck der „Baltrum I"
schlichtweg ein bisschen schummelt,
als er den unter einem Regenschleier
Daheimgebliebenen per Handy munter
verkündet: „Hier ist strahlend
blauer Himmel." Dann legt die Fähre
unter dem Gedröhn des Dieselmotors
von der Küste in Neßmersiel ab und
lässt den Rest seiner Worte
untergehen.
Die Fahrt durch die Nordsee ist kurz. Nur eine gute halbe Stunde braucht die „Baltrum I", um die Insel zu erreichen, der sie ihren Namen verdankt. Baltrum ist die kleinste in der Kette der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln und liegt genau in der Mitte. Gerade mal 500 Einwohner leben hier – in der Saison eine kleine Minderheit unter einer hundert Mal so großen Gästeschar. Nicht mal Straßennamen gibt es, Hausnummern müssen zur Orientierung genügen. Weite Sandstrände und viel unberührte Natur sind Baltrums Hauptattraktion, Reize, mit denen das sorgsam gehegte Image als „Dornröschen der Nordsee" auf liebenswerte Weise kokettiert.
Ruhig ist es auch im kleinen
Inselhafen. Nur wenn wenige Male am
Tag ein Fährschiff anlegt, wird es
dort schlagartig lebendig. Mit
Gepäckkarren und Trolleys bahnen
sich die Ankömmlinge einen Weg aus
dem Gewusel, machen sich zu Fuß oder
per Pferdekutsche auf zu ihrem Ziel.
Denn Autos sind auf Baltrum
tabu – wesentlicher Grund für die
wohltuende Stille, die den Besucher
bald umfängt. Wer länger bleibt, den
zieht es als erstes zu einer der
zahlreichen Ferienwohnungen oder
Pensionen.
Wir sind nur zu einem Tagesbesuch auf der kleinen Insel gelandet, doch auch der lohnt sich. Gerade mal fünf Kilometer lang und etwa einen Kilometer breit ist sie: Man muss kein besonders ausdauernder Wanderer sein, um sie zu umrunden. Im Norden dehnt sich der feine, ausgedehnte Badestrand, dahinter rollen die Wellen der offenen Nordsee. Zwischen Muschelschalen im hellen Sand zeigt sich hin und wieder ein Krebs, zerrissene Fischernetze liegen zwischen angeschwemmtem Hölzern. Ein Weg führt hoch zu einer weitläufigen Dünenlandschaft.Vorbei an einem Kiefernwäldchen und an windgebeugtem Strauchwerk geht es weiter zu einer hohen Aussichtsdüne, wegen des Panoramablicks ein beliebtes Ziel für Ausflügler.
Ein Stück weit folgen wir auch dem
Gezeitenpfad, der sich quer über die
ganze Insel zieht. Der sieben
Kilometer lange Lehrpfad, der bei
den Wattflächen am Hafen beginnt,
erläutert an 18 Stationen die
inseltypischen Biotope. So wird zum
Beispiel erklärt, wie es durch das
Zusammenspiel von Wind und Pflanzen
zur Bildung von Dünen kommt. Der
Rundweg endet am Nationalparkhaus in
Hafennähe. Es wurde 1987 in einem
ehemaligen Schuppen der
Inselreederei eröffnet.
Seitdem können die Besucher hier alles über das empfindliche Ökosystem des Wattenmeers erfahren, das seit Juni 2009 zum Weltnaturerbe der UNESCO gehört. Ebbe und Flut sind natürlich das zentrale Thema, doch auch Flora und Fauna des Wattenmeers werden vorgestellt. In silbriger Transparenz tänzeln Garnelen vor unseren Augen in einem großen Aquarium, auch ausgestopfte Seevögel und Seehunde sind zu sehen.
„Ich habe schon immer für das
Wattenmeer geschwärmt", erzählt
Karen Kammer, die im Februar 2010
die Leitung des Hauses übernommen
hat. Die Biologin kennt die Vielfalt
dieses besonderen Lebensraums und
seine Tierwelt seit langem gut und
beantwortet geduldig die Fragen der
Besucher. Kurz nachdem sie ihren
Posten angetreten hatte, hatte eine
nach dem harten Winter versprengte
Robbe am Badestrand für helle
Aufregung gesorgt. „Damals bekamen
wir mehr als hundert Handy-Anrufe
pro Tag, weil sich die Leute so um
das Tier sorgten", erinnert sich
Kammer. Sie bemühte sich nach
Kräften um Beruhigung und
Aufklärung: Die relativ junge,
erschöpfte Robbe brauchte eigentlich
nur eine Ruhepause, um zu den nahen
Robbenbänken der Nachbarinsel
Norderney zurückkehren zu können.
Doch genau die drohten ihr die
hilfsbereiten Schaulustigen, die sie
immer wieder umringten,
unwissentlich zu nehmen.
Während die Biologin sich über ihr
neues Wirkungsfeld freut und auch
der Einsamkeit des Winters ohne
Bangen entgegensieht, hat das einst
harte und raue Inselleben manch
früheren Bewohner zur Verzweiflung
getrieben. 1745 flehte der Pastor,
Inselvogt und Lehrer August Heinsius
nach einer schweren Sturmflut um
seine Versetzung: ...„und bitte
gehorsamst, ja inständig, sich
meiner zu erbarmen, dass ich von
diesem wüsten, jämmerlichen und
gefährlichen Ort erlöstet werde, ich
kann unmöglich länger hier leben
noch wohnen oder Gott muss
Überschwengliches an mir thun. Die
Menschen sind allhier wie grimmige
Bären und wie die Wölfe vor Hunger
und Kummer, weil sie ihr Brodt nicht
mehr erwerben können, kein Vieh kann
noch gehalten werden, die Häuser
fallen ein." Eine weitaus schlimmere
Sturmflut stand da noch bevor: Sie
trennte die Insel 1825 vorübergehend
sogar in zwei Teile.
Erst mit der Gründung des Baltrumer
Seebads gut 50 Jahre später ging es
allmählich aufwärts. Der Tourismus
ist längst zur Haupteinnahmequelle
geworden. Schnell sind auch heute
die Tischchen vor den Restaurants
und Cafés in Baltrums Westdorf
besetzt. Viele Tagesgäste, die nach
einem ausgedehnten Inselspaziergang
noch an einer Reihe Denkmal
geschützter Friesenhäuser, der alten
Inselkirche, der daneben als
Wahrzeichen aufgehängten Glocke und
dem als Museum genutzten einstigen
Zollhaus vorbeigeschlendert sind,
genießen nun eine verdiente
Verschnaufpause.
Das aber mit wachsamem Blick auf die Uhr: Das letzte Schiff, das schon am Spätnachmittag zur Küste zurückfährt, will niemand verpassen. Als die „Baltrum" auf ihrem Rückweg Neßmersiel ansteuert , spricht niemand mehr übers Wetter. Schade eigentlich. Denn jetzt ist wahr, was am Vormittag erst kühne Behauptung war: Der Himmel leuchtet in tiefem Blau wie am Mittelmeer. Weg sind sie allesamt, die mächtigen Hammelwolken vom Morgen.
Informationen
Baltrum erreicht man mehrmals am Tag mit der Fähre, deren Fahrplan von den Gezeiten abhängt. Sie legt in Neßmersiel ab.