Endlich! Ein Ruck geht durch die
kleine Schar, die immer noch
geduldig am Ufer ausharrt. Das lange
Warten mit den Ferngläsern vor den
Augen hat sich gelohnt. Mit fast
drei Stunden Verspätung taucht nun
in der Ferne die „Astor" auf. Weil
es bereits am Dunkeln ist, tauchen
zahlreiche Lampen das
Kreuzfahrtschiff in ein warmes
Licht. Majestätisch zieht es
schließlich an den Zuschauern
vorbei, die den ersehnten Moment mit
ihren Kameras festhalten.
Der winzige Ort Sehestadt am Nord-Ostseekanal erlaubt großen und kleinen Schiffeguckern eine besonders gute Sicht auf das Wasserband. Camper mit ihren Wohnmobilen genießen sie sozusagen aus ihrer guten Stube heraus; die Stellplätze sind nur wenige Meter von der Wasserlinie entfernt. Hinter ihnen thront auf einem Hang ein Kiosk mit Bier- und Kaffeegarten. Dort, wo es werbewirksam „Wurst mit Panorama-Blick" gibt, lassen sich Ausflügler gern zu einer Stärkung mit Aussicht nieder. Vor allem Biker nutzen den Platz als Treffpunkt.
Der 98,6 Kilometer lange Kanal
verbindet die Nordsee seit mehr als
100 Jahren mit der Ostsee – eine
gewaltige Abkürzung für die Schiffe.
Denn früher mussten sie einen
mehrere Hunderte Kilometer längeren
Weg um die Nordspitze Dänemarks
herum zurücklegen. 1895 wurde der
Kanal noch unter dem Namen
Kaiser-Wilhelm-Kanal eröffnet
– nach achtjähriger Bauzeit.
Heute ist die auch Kielkanal genannte Verbindung zwischen der Elbmündung an der Nordsee und der Kieler Förde an der Ostsee die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt, was die Passagen angeht.
Mehr als 80 Schiffe, kleine Sport- und Freizeitboote nicht mit eingerechnet, haben den Kanal nach Angaben der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Nord im Jahr 2009 im Schnitt pro Tag genutzt. Viel zu sehen für die Schiffegucker!
Das einstige Bauerndorf Sehestedt, das 1282 erstmals urkundlich erwähnt wurde, musste für den Bau des Kanals jedoch einen hohen Preis zahlen. Es wurde unwiderruflich in zwei Teile zerschnitten. Die Traumschiffe und Frachter gleiten Tag für Tag über einen Teil des historischen Ortskerns und des alten Friedhofs hinweg. Auch die Gastwirtschaft, die einst der soziale Mittelpunkt war, fiel dem Kanalbau zum Opfer. Im „Haus der Geschichte", das im einstigen, schmuck restaurierten Pastorat untergebracht ist, können Neugierige heute den Weg des geteilten Örtchens anschaulich nachvollziehen.
Eine langsame Ziehfähre war nach
dem Kanalbau zunächst die einzige
Verbindung zwischen dem Nord- und
dem Südteil von Sehestedt – nicht
gerade erbaulich für die Einwohner.
Gut, dass es heute die „Stolpmünde"
gibt, die die Route der großen Pötte
rund um die Uhr mit nur wenigen
Pausen immer von neuem kreuzt.
Ziemlich genau 100 Sekunden dauert
es nur, bis sich die eine Schranke
am Ufer gesenkt und die andere auf
der gegenüberliegenden Seite gehoben
hat. In dieser kurzen Zeit hat die
kleine motorisierte Fähre die
Wasserfläche überquert und mit ihrer
Fracht schon wieder angelegt. Mal
rollen nur ein paar Autos von der
Ladefläche aufs Festland, mal sind
auch einige Motorräder dabei, fast
immer mehrere Fußgänger.
Mancher Besucher, der vor allem die
großen Schiffe vorbeiziehen sehen
will, nutzt die Wartezeit bis zur
Ankunft des nächsten zu einem
Spaziergang durch das
800-Seelen-Dorf. Dann kann er auf
der Nordseite das den Ort prägende,
eindrucksvolle Gut Sehestedt mit
seinem schönen alten Herrenhaus
entdecken. Unweit davon stößt man
auf einen kuriosen Laden für
Nutzkunst; dicke, vor dem Gebäude
aufgehängte Glaskugeln spiegeln das
Antlitz des Betrachters wider. Von
dort ist es auch nicht allzu weit zu
dem ehemaligen Forsthaus am
Waldrand. Da warnt ein Schild vor
Kreuzottern – was manchem Städter
gehörigen Respekt einflößt.
Ein kleiner Bogen, und schon steht der Gast vor der schlichten romanischen Feldsteinkirche St. Peter und Paul, die den Kanal weithin sichtbar überragt. Harro Harring, einen unruhiger, weitgereister Geist und waschechter Revolutionär, Dichter und Maler sowie Bruder des einstigen Pastors Martin Harring, hat es im 19. Jahrhundert zu großer Bekanntschaft gebracht. Er hat seinen Bruder mehrfach in Sehestedt besucht.
In zentraler Lage der Nordhälfte
fällt der Blick dann auf ein
auffälliges Denkmal mit einem hohen
Obelisken. Es erinnert an die
Schlacht von Sehestedt im Jahr 1813,
in der
dänisch-schleswig-holsteinische
Truppen auf Seiten Napoleons gegen
preußisch-schwedisch-russische
Streitkräfte kämpften. Denn bis etwa
1850 war Sehestadt dänisch. Heute
noch legt eine Delegation aus dem
nördlichen Nachbarland Jahr für Jahr
einen Kranz deshalb bei dem Denkmal
nieder.
Auch wer mit der Fähre zur Südseite Sehestedts übersetzt, stößt auf ein Denkmal. Ein dicker Stein erinnert an ein schreckliches Unglück: Am 11. September 1974 kamen sechs junge schottische Fallschirmjäger während einer NATO-Übung ums Leben, als sie ihre geplante Absprungstelle verfehlten. Sie ertranken bei Sehestedt im Nord-Ostsee-Kanal. Zwischen deren Angehörigen und Kameraden und den Sehestedtern, die Anteil genommen hatten, entwickelten sich bis heute andauernde freundschaftliche Beziehungen. Diese gewachsene Freundschaft hat sogar dazu geführt, dass in dem kleinen Ort seit 2001 schon mehrfach „Highland-Games“ nach schottischem Vorbild veranstaltet wurden – mit Baumstammweitwurf, Steinstoßen, Tauziehen und natürlich auch Dudelsackklängen.
Ein Heuhotel und ein wachsendes kleines Neubaugebiet gibt's auf der Südseite auch – und eine langgezogene Straße mit dem ebenso ungewöhnlichen wie unerklärten Namen „Zufriedenheit". Die empfinden die passionierten Schiffegucker vor allem am Anleger der „Stolpmünde" und am Kanalufer. Na, da kommt doch wieder was, Ferngläser hoch: Ziemlich genau zwölf Stunden nach der „Astor" tuckert nun das Kreuzfahrtschiff „Deutschland" vorbei.
Informationen
Anreise
Von Norden:
Sehestedt liegt an der Landestraße 42 zwischen Gettorf und Rendsburg. Von der Autobahn 7 aus Richtung Flensburg kommend über die Abfahrt Büdelsdorf/Rendsburg auf die Bundesstraße 203 in Richtung Rendsburg abfahren. Vor dem Ortseingang Büdelsdorf in Richtung Borgstedt bzw. nach Gettorf abbiegen.
Von Süden:
Am Kreuz Rendsburg in Richtung Kiel auf die Autobahn A210, an der nächsten Ausfahrt (Bredenbek ) abfahren. Unmittelbar nach der Ausfahrt in Richtung Bovenau nach links abbiegen. In Bovenau nach rechts in Richtung Sehestedt zum Nord-Ostseekanal abbiegen.
Internet
Informationen zu Sehestedt gibt es unter www.sehestedt.de
Zum Nord-Ostseekanal: www.kielkanal.de