Möwen versuchen, von den Fahrgästen der „Baltrum" einen Happen zu erhaschen.

Wandern auf dem Gezeitenpfad

Baltrum: Die kleinste der ostfriesischen Inseln lässt sich auch bei einem Tagesausflug gut erkunden

Von Renate Brämer

Erster Blick auf die Insel: In der Ferne taucht Baltrums Westspitze auf.Nein – Schäfchenwölkchen sind das wirklich nicht. Die wattig-weißen Gebilde erinnern eher an riesige Hammel, die in einer großen Herde friedlich am Himmel über der Küste weiden. Weshalb der Mittdreißiger auf dem Deck der „Baltrum I" schlichtweg ein bisschen schummelt, als er den unter einem Regenschleier Daheimgebliebenen per Handy munter verkündet: „Hier ist strahlend blauer Himmel." Dann legt die Fähre unter dem Gedröhn des Dieselmotors von der Küste in Neßmersiel ab und lässt den Rest seiner Worte untergehen.

Die Fahrt durch die Nordsee ist kurz. Nur eine gute halbe Stunde braucht die „Baltrum I", um die Insel zu erreichen, der sie ihren Namen verdankt. Baltrum ist die kleinste in der Kette der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln und liegt genau in der Mitte. Gerade mal 500 Einwohner leben hier – in der Saison eine kleine Minderheit unter einer hundert Mal so großen Gästeschar. Nicht mal Straßennamen gibt es, Hausnummern müssen zur Orientierung genügen. Weite Sandstrände und viel unberührte Natur sind Baltrums Hauptattraktion, Reize, mit denen das sorgsam gehegte Image als  „Dornröschen der Nordsee"  auf liebenswerte Weise kokettiert.

Nur wenn ein Schiff anlegt, wird die Ruhe im Hafen unterbrochen.Ruhig ist es auch im kleinen Inselhafen. Nur wenn wenige Male am Tag ein Fährschiff anlegt, wird es dort schlagartig lebendig. Mit Gepäckkarren und Trolleys bahnen sich die Ankömmlinge einen Weg aus dem Gewusel, machen sich zu Fuß oder per Pferdekutsche auf zu ihrem Ziel. Denn Autos  sind auf Baltrum tabu – wesentlicher Grund für die wohltuende Stille, die den Besucher bald umfängt. Wer länger bleibt, den zieht es als erstes zu einer der zahlreichen Ferienwohnungen oder Pensionen.

Wir sind nur zu einem Tagesbesuch auf der kleinen Insel gelandet, doch auch der lohnt sich. Gerade mal fünf Kilometer lang und etwa einen Kilometer breit ist sie: Man muss kein besonders ausdauernder Wanderer sein, um sie zu umrunden. Im Norden dehnt sich der feine, ausgedehnte  Badestrand, dahinter rollen die Wellen der offenen Nordsee. Zwischen Muschelschalen im hellen Sand zeigt sich hin und wieder ein Krebs, zerrissene Fischernetze liegen zwischen angeschwemmtem Hölzern. Ein Weg führt hoch zu einer weitläufigen Dünenlandschaft.Vorbei an einem Kiefernwäldchen und an windgebeugtem Strauchwerk geht es weiter zu einer hohen Aussichtsdüne, wegen des Panoramablicks ein beliebtes Ziel für Ausflügler.

Ein zerrissenes Netz kündet am Strand vom Fischfang.Ein Stück weit folgen wir auch dem Gezeitenpfad, der sich quer über die ganze Insel zieht. Der sieben Kilometer lange Lehrpfad, der bei den Wattflächen am Hafen beginnt, erläutert an 18 Stationen die inseltypischen Biotope. So wird zum Beispiel erklärt, wie es durch das Zusammenspiel von Wind und Pflanzen zur Bildung von Dünen kommt. Der Rundweg endet am Nationalparkhaus in Hafennähe. Es wurde 1987 in einem ehemaligen Schuppen der Inselreederei eröffnet.

Seitdem können die Besucher hier alles über das empfindliche Ökosystem des Wattenmeers erfahren, das seit Juni 2009 zum Weltnaturerbe der UNESCO gehört. Ebbe und Flut sind natürlich das zentrale Thema, doch auch Flora und Fauna des Wattenmeers werden vorgestellt. In silbriger Transparenz tänzeln Garnelen vor unseren Augen in einem großen Aquarium, auch ausgestopfte Seevögel und Seehunde sind zu sehen.

Robben ruhen auf den Sandbänken vor Norderney. „Ich habe schon immer für das Wattenmeer geschwärmt", erzählt Karen Kammer, die im Februar 2010 die Leitung des Hauses übernommen hat. Die Biologin kennt die Vielfalt dieses besonderen Lebensraums und seine Tierwelt seit langem gut und beantwortet geduldig die Fragen der Besucher. Kurz nachdem sie ihren Posten angetreten hatte, hatte eine nach dem harten Winter versprengte Robbe am Badestrand für helle Aufregung gesorgt. „Damals bekamen wir mehr als hundert Handy-Anrufe pro Tag, weil sich die Leute so um das Tier sorgten", erinnert sich Kammer. Sie bemühte sich nach Kräften um Beruhigung und Aufklärung: Die relativ junge, erschöpfte Robbe brauchte eigentlich nur eine Ruhepause, um zu den nahen Robbenbänken der Nachbarinsel Norderney zurückkehren zu können. Doch genau die drohten ihr die hilfsbereiten Schaulustigen, die sie immer wieder umringten, unwissentlich zu nehmen.

Rechts neben der alten Kapelle hängt die Inselglocke an ihrem Holzgestell.Während die Biologin sich über ihr neues Wirkungsfeld freut und auch der Einsamkeit des Winters ohne Bangen entgegensieht, hat das einst harte und raue Inselleben manch früheren Bewohner zur Verzweiflung getrieben. 1745 flehte der Pastor, Inselvogt und Lehrer August Heinsius nach einer schweren Sturmflut um seine Versetzung: ...„und bitte gehorsamst, ja inständig, sich meiner zu erbarmen, dass ich von diesem wüsten, jämmerlichen und gefährlichen Ort erlöstet werde, ich kann unmöglich länger hier leben noch wohnen oder Gott muss Überschwengliches an mir thun. Die Menschen sind allhier wie grimmige Bären und wie die Wölfe vor Hunger und Kummer, weil sie ihr Brodt nicht mehr erwerben können, kein Vieh kann noch gehalten werden, die Häuser fallen ein." Eine weitaus schlimmere Sturmflut stand da noch bevor: Sie trennte die Insel 1825 vorübergehend sogar in zwei Teile.

Kein Auto, dafür viele Pferde: Auf Baltrum geht es gemächlich zu. Erst mit der Gründung des Baltrumer Seebads gut 50 Jahre später ging es allmählich aufwärts. Der Tourismus ist längst zur Haupteinnahmequelle geworden. Schnell sind auch heute die Tischchen vor den Restaurants und Cafés in Baltrums Westdorf besetzt. Viele Tagesgäste, die nach einem ausgedehnten Inselspaziergang noch an einer Reihe Denkmal geschützter Friesenhäuser, der alten Inselkirche, der daneben als Wahrzeichen aufgehängten Glocke und dem als Museum genutzten einstigen Zollhaus vorbeigeschlendert sind, genießen nun eine verdiente Verschnaufpause.

Das aber mit wachsamem Blick auf die Uhr: Das letzte Schiff, das schon am Spätnachmittag zur Küste zurückfährt, will niemand verpassen. Als die  „Baltrum" auf ihrem Rückweg Neßmersiel ansteuert , spricht niemand mehr übers Wetter. Schade eigentlich. Denn jetzt ist wahr, was am Vormittag erst kühne Behauptung war: Der Himmel leuchtet in tiefem Blau wie am Mittelmeer. Weg sind sie allesamt, die mächtigen Hammelwolken vom Morgen.

Informationen

Baltrum erreicht man mehrmals am Tag mit der Fähre, deren Fahrplan von den Gezeiten abhängt. Sie legt in Neßmersiel ab.

Internet

www.baltrum.de

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