Nur noch als Trümmerfeld liegt das Dörfchen Jánovas vor der Bergkulisse.

Spurensuche in Jánovas

Vor einem halben Jahrhundert wurden die Bewohner eines Bergdorfs in Aragón wegen eines geplanten Stausees aus ihrer Heimat vertrieben. Völlig sinnlos, wie sich herausstellen sollte: Das Projekt platzte. Die Verjagten fordern ihr Land noch immer zurück – und haben jetzt Aussicht auf Erfolg.

Von Renate Brämer

Der kleine verwilderte Friedhof birgt viele Erinnerungen.Vicenta La Casa gehört zu den letzten, die auf dem winzigen Friedhof bestattet wurden. Am 26. Februar 1960 ist sie gestorben, wurde dann hinter der kleinen Dorfkirche beerdigt. Kunstblumen in verblassendem Blau und Rot schmücken das Grab mit der ovalen Emailleplatte, die ihren Namen trägt. Wie ein trotziges Zeichen des Erinnerns behaupten sich die Blüten inmitten des üppig wuchernden Unkrauts. Eine Erinnerung, die nicht allein der Toten gilt, sondern auch dem Ort, der schon so lange in Trümmmern liegt:  Jánovas.

Lange stehe ich hier, am höchstgelegenen Punkt des entvölkerten Örtchens, und schaue in die Ferne, hinweg über die Ruinen aus grobem Mauerwerk und über wild aufschießendes Buschwerk. Auch das Kirchlein San Miguel bietet mit seinen abblätternden Wandmalereien mittlerweile ein deprimierendes Bild der Trostlosigkeit. Altes Stroh bedeckt den Boden und auch die Nische, in der einmal der Altar gestanden haben muss.

Als Vicenta starb, war das Pyrenäendorf im nordspanischen Aragón jedoch noch kein Geisterdorf, sondern von Leben erfüllt und wohl eine richtige Idylle. Das verrrät heute noch die malerische Lage am Fluss Ara, an der sich nichts geändert hat. Glasklar, in lichtem Blaugrün, fließt das Wasser über Steine und Kiesel. Wunderbar ist es, sich darin im Sommer die von der sengenden Sonne verbrannte Haut zu kühlen. Beim Eintauchen denke ich unwillkürlich an Forellen: Die bestehen auf ein striktes Reinheitsgebot, wie es der Ara  als eines der letzten Wildgewässer der Gegend erfüllt, so gänzlich frei von Schmutz und Trübungen. Nur wenige Badegäste finden zu der abgelegenen Stelle bei der zerstörten Brücke, die einst nach Jánovas führte. Und nur ein paar versprengte Touristen sind darunter. Die hat der Reiseführer eigentlich zu dem nahen Ordesa-Nationalpark mit seiner eindrucksvollen Bergwelt geleitet, die den mehr als 3300 Meter hohen Monte Perdido umgibt. Für Abstecher empfiehlt er aber auch weniger spektakuläre Ziele als das Reich der seltenen Pyrenäensteinböcke, der Bartgeier und Adler –  wie die zahlreichen verlassenen Dörfer des Hoch-Aragón, deren Bewohner vor den kargen Lebensbedingungen in die Städte geflohen sind.

Der Ara mit seinem glasklaren Wasser ist noch ein weitgehend intakter Wildfluss.Doch meistens sind es Einheimische, die bei einem Picknick einen freien Tag vor Jánovas verbringen, Flaschen und Obst in Plastiktüten zum Kühlen ins Wasser hängen. Und zuweilen ist unter ihnen einer, dem der Ort vor einem halben Jahrhundert Heimat war. Der im Gegensatz zu den flüchtigen Besuchern immer wieder durch das Flussbett watet, um auf dem Trampelpfad am anderen Ufer zu den Ruinen zu gelangen, oder geduldig den Umweg von der Straße aus nimmt. Bei meinem Besuch im Sommer habe ich noch keine Ahnung davon, wie sehr das Schicksal des Dörfchens mit dem Fluss verknüpft ist, welche Pläne mit seiner Entvölkerung. Langsam schlendere ich durch die Überreste der wenigen Gassen, spähe durch leere Fensterrahmen und frage mich, wie es wohl zu dem Exodus und der Zerstörung gekommen ist. Anfangs hatte ich an die Gewalt der Erosion und des Windes geglaubt,  an ein Zerbröckeln des Mauerwerks unter unbarmherziger Sonne.

Doch Vicencas Grab und Todesdatum haben mich stutzig gemacht: Nein, in ein paar Jahrzehntenschafft es auch eine extreme Witterung nicht, ein gewachsenes Dorf  so gründlich dem Verfall preiszugeben. Inmitten der Trümmer gibt es überraschende Zeichen des Überlebens, des Beharrens. Wie die Sitzgruppe um den Baum am Dorfeingang mit dem großen gekachelten Tisch, die irgendwer in Schuss zu halten scheint. Wer setzt sich heute noch dahin, nichts als eine  Wüstung vor Augen? Auch die Dorfquelle, aus der noch immer Wasser fließt, scheint neu gefasst. Jánovas mag entvölkert sein, verlassen ist es nicht: Das begreife ich, als ich  schon wieder am Aufbrechen bin.

Ein Schild hält den Namen Jánovas am Leben, von Karten ist er weitgehend  verschwunden.„Jánovas Reversion", eine Umkehr, fordert ein großes Schild auf dem Hügel am Straßenrand. Dann lässt mich ein mehrseitiger Aushang innehalten, der am Straßenknick mit dem besten Panoramablick auf die Ruinen angebracht ist. Spanisch kann ich nicht. Also muss zum Übersetzen mein Restlatein her und alles, was ich sonst an romanischem Sprachgut zusammenkratzen kann. Mühsam entziffere ich einen  eindringlichen Appell, den frühere Bewohner verfasst haben. „Glaubt nicht, dass Jánovas ein verlassenes Dorf ist es handelt sich in Wirklichkeit um eine  Enteignung", heißt es sinngemäß. Viel mehr Lücke als Information ist das, was ich herausbekommen habe, meine Neugier ist geweckt.

Die früheren Bewohner wollen ihr zerstörtes Heimatdorf nicht aufgeben und hoffen auf Rückgabe des Landes.Während des kalten norddeutschen Winters googele ich mich zurück an die besonnten Ufer des Ara, zu den einsamen Ruinen, und setze ein Mosaik zusammen aus dem, was das Internet verrät. Die lange Geschichte, die ich erfahre, beginnt vor mehr als 50 Jahren: Damals plant das Energieunternehmen Iberduero einen großen Staudamm am Ara, dem gleich mehrere Dörfer weichen sollen. Damit der Weg für die Fluten frei wird, wird Jánovas von Francos Junta Anfang der 60er Jahre gewaltsam geräumt. Mehr als 200 Menschen verlieren unter dramatischen Umständen ihr Zuhause. Ihre Häuser werden zerstört, niemand soll zurückbleiben können. Der Schuster Emilio Garcés und seine Frau Francisca Castillo sind die letzten, die dennoch eisern zwischen den Ruinen ausharren bis 1984, als auch sie schweren Herzens ihren Heimatort verlassen. 

Druck und Drohungen, Sprengungen und Gewalt: Was sich in den Erinnerungen etlicher Vertriebener spiegelt, erinnert an Kriegsszenen. Nahezu symbolhaft wirkt deshalb die Rolle, die Jánovas 2001 im Scheinwerferlicht eines Kamerateams einnimmt. Als  zerstörtes Balkandorf fungiert es in Daniel Calparsoros Kriegsdrama „Guerreros", wird zur Kulisse für den Film um die grausigen Erlebnisse junger spanischer UN-Soldaten im Kosovo. Jánovas' aus dem 16. Jahrhundert stammende Kirche wird dafür eigens mit  Wandmalereien im byzantinischen Stil ausstaffiert, ein Anblick, der Besucher noch immer überrascht.

Das Jahr 2001 bedeutet für Jánovas' Geschichte gleichzeitig einen großen Einschnitt.  Der vor einem halben Jahrhundert geplante Staudamm ist immer noch  nicht gebaut, aber jetzt steht  endgültig fest, dass es dazu auch nicht mehr kommen wird. Eine Umweltverträglichkeitsstudie ist zu dem Schluss gekommen, dass das Projekt nicht verwirklicht werden darf.

Die Kirche zeigt Wandmalereien im byzantinischen Stil – Relikte von Filmarbeiten.Gut für den Ara, gut für die wunderbare Berglandschaft. Doch Jánovas ist umsonst geopfert worden. Ganz im Gegensatz zu dem Dorf Mediano südlich von der mittelalterlichen Stadt Ainsa, das in den Fluten des Flusses Cinca versank und dessen Kirchturmspitze heute aus dem gleichnamigen Stausee ragt.  Dass er heute ein bedeutendes  Trinkwasserreservoir ist, tröstet möglicherweise manchen der einstigen Dörfler über den Verlust der Heimat hinweg.

Ein Trost, den es  für das zerstörte Jánovas nicht gibt. „Jánovas, victimas de un pantano de papel" heißt das Büchlein, in dem die Historikerin Marisancho Menjón die bittere Geschichte der Einwohner nachzeichnet. Sie sieht den Ort untergegangen in einem „Sumpf aus Papier", aus bürokratischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Interessen.

Doch aufgegeben haben die einstigen Bewohner und ihre Nachfahren Jánovas nie. Jahr für  Jahr versammeln sie sich Ende September in dem geschundenen Örtchen, um ihr traditionelles Dorffest zu Ehren des Heiligen Miguel zu feiern. Die Internetplattform Youtube hält die trotzig-fröhliche Fiesta fest. Hunderte von Menschen kommen zusammen, eskortiert von Reitern, die die Ödnis rückerobern. Traurig ist das Lied, mit dem eine Band Jánovas' Schicksal besingt. Und eindrucksvoll die Unerschütterlichkeit, mit der die früheren Bewohner ihre Gemeinschaft am Leben erhalten.

Und jetzt auch neue Hoffnung teilen: Im Dezember 2008 hat endlich der Prozess begonnen, von dem sie eine Entschädigung für die lang zurückliegende Enteignung und die  Rückgabe ihrer Grundstücke erwarten. Heute verhandeln sie mit der Gesellschaft Endesa, Spaniens größtem Stromanbieter. Der hatte die Rechte für die Nutzung der Wasserkraft einst von Eléctricas Reunidas de Zaragoza (ERZ) übernommen, diese hatten sie von Iberdrola  übereignet bekommen, dem Nachfolgeunternehmen von Iberduero.Wie das Ringen um Wiedergutmachung und Gerechtigkeit vorankommt, berichtet die Tageszeitung Heraldo de Aragón immer wieder im weltweiten Netz.

Das Kirchenportal aus Jánovas befindet sich im nahen Fiscal.Was werde ich vorfinden, wenn ich das  nächste Mal den Ara durchwate und schaue, was aus Jánovas geworden ist? Nicht alle Träume werden Wirklichkeit, wenn Hindernisse und Barrieren aus dem Weg geräumt sind.  Werden die  Erben und Kinder früherer Einwohner angesichts des Verfalls nicht doch resignieren, wenn sie endlich über den Grund und Boden verfügen können? Werden sie die Ruinen entmutigt so lassen, wie sie sind?

Oder wird Jánovas als schmuckes Dörfchen wie ein Phönix aus der Asche auferstehen, wie die nahen Orte Oto und Torla im sanften Tourismus eine Zukunft finden? Sollte es dazu kommen, wäre eines unverzichtbar: Die Kirche San Miguel müsste ihr schönes romanisches Portal aus dem 12. Jahrhundert zurückbekommen. Das ist schon vor vielen Jahren in das nahe Dorf Fiscal geschafft worden,  um es vor dem Untergang in dem geplanten Stausee  zu bewahren. Seitdem wartet es dort auf die  Reversion", die für den Steinbogen nur Rückkehr bedeuten kann.

 Informationen

  • Turismo Aragon
    Glorieta Pío XII
    Torreón de la Zuda
    50003 Zaragoza
    Tel. (00 34) 9 02 47 70 00
  • Spanisches Fremdenverkehrsamt
    Kurfürstendamm 63
    10707 Berlin
    Tel. (0 30) 88 26-0 oder (0 61 23) 9 91 34

Internet

www.spain.info

Film

Daniel Calparsoro: Kriegsdrama "Guerreros"

Youtube

Jánovas, victimas de un pantano de papel

La ronda en Janovas 2007

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