Bedrohlich lastet das tiefe Grau
der schweren Wolkendecke über der
verlassenen Landschaft. Es kann nur
noch Minuten dauern, bis sich die
Regenmassen eines winterlichen
Gewitters als Sturzflut über uns
ergießen. Das ist nicht gerade das,
was wir uns von der weiten Fahrt ins
gewöhnlich sonnenverwöhnte Sizilien
erhofft haben. Aber es ist nun mal
Ende Dezember – und die düstere
Kulisse passt besser als jede andere
zu dem surrealistisch anmutenden Ort
im Westen der Insel.
Vor uns erstreckt sich eine riesige Fläche, übergossen von einer dicken Betonschicht. Nur einige schmale Einschnitte unterbrechen ihre Eintönigkeit. Das ist außer dem entfernt gelegenen Friedhof alles, was noch an das mittelalterliche Gibellina vecchia erinnert. Das im 14. Jahrhundert gegründete Städtchen wurde bei einem verheerenden Erdbeben im Januar 1968 völlig zerstört. Als Mahnmal hat der umbrische Künstler Alberto Burri auf einem Areal von 700 Quadratmetern über den Trümmern ein begehbares Kunstwerk geschaffen. „Il Cretto”, der Riss, hat er sein Werk am Ort der Naturkatastrophe betitelt.
Was sich einst weiß wie ein
Leichentuch von der Landschaft
abhob, ist durch die Witterung
längst zu schmuddeligem Braun und
Grau verblasst. Langsam
durchstreifen wir die Gänge zwischen
den Betonmauern; hier und da krallt
sich ein Pflanzenbüschel in einer
Ritze fest und kämpft unter äußerst
kargen Bedingungen zäh um sein
Überleben. Die Schneisen bilden das
einstige Wegenetz des Örtchens nach.
Wie eng sie waren, diese alten
Gassen. Nicht nötig, auch nur leicht
die Stimme zu erheben, um die
Nachbarin im Haus gegenüber beim
Wäscheaufhängen zu grüßen. Aber auch
kaum möglich, sich beim Gang zum
Bäcker unauffällig an einem
Zeitgenossen vorbeizudrücken, dem
man lieber aus dem Weg gegangen
wäre. Beim Abschreiten der Gässchen
können wir uns die Vorzüge und die
Kehrseite des Lebens in der
geschlossenen Dorfgemeinschaft mit
etwas Fantasie ziemlich gut
vorstellen.
Das Erdbeben im Belice-Tal, von dem
auch ein Dutzend weitere Orte
betroffen waren, hatte ihm Mitte
Januar 1968 ein jähes Ende gesetzt.
Zahlreiche Menschen verloren damals
ihr Leben, mehr als 100 000 wurden
obdachlos und warteten lange
vergeblich auf Hilfe. Auch die
einstigen Bewohner Gibellinas
mussten jahrelang in Baracken und
Notunterkünften ausharren. Denn der
Großteil des Geldes, das der Staat
zur Unterstützung der Erdbebenopfer
zur Verfügung gestellt hatte, kam
bei ihnen gar nicht an, sondern
landete in den Händen der Mafia.
Erst in den 1970-er Jahren kam es zu
einem Neuanfang für Gibellina. Aber
nicht etwa als Phönix aus der Asche
erstand die Ortschaft wieder. Sie
wurde mehr als 16 Kilometer entfernt
völlig neu errichtet.
Letzteres erfahren wir von Baldo, dem wir am Fuß der Ruinen begegnen. „Es lohnt sich, auch Gibellina nuova anzusehen, die Stadt ist wirklich sehenswert”, schwärmt der ortskundige Mann. Wir werden neugierig auf die Hochburg moderner Kunst, die er uns beschreibt. Schon am nächsten Tag fahren wir hin – und stoßen noch vor dem Ortseingang auf eine monumentale Stahlskulptur. Seit 1980 begrüßt der „Stern von Gibellina”, den Pietro Consagra geschaffen hat, dort jeden Besucher. Auf Kunstwerke im Freien stoßen wir nun auf Schritt und Tritt.
Die Entstehung und ungewöhnliche
Gestaltung des neuen Ortes sind dem
früheren Bürgermeister Gibellinas,
dem Rechtsanwalt Ludovico Corrao, zu
verdanken. Um der nach dem Vorbild
englischer Gartenstädte erbauten
Retortenstadt eine tragfähige
Zukunft zu geben, sollte sie auch zu
einem kulturellen Anziehungspunkt
werden. Zahlreiche Künstler aus
aller Welt wurden eingeladen, um der
Stadt durch Skulpturen und
Installationen im öffentlichen Raum
ein unverwechselbares Gesicht zu
geben. Zu den Teilnehmern zählen
außer Consagra unter anderem Rob
Krier, Oswald Mathias Unger, Arnaldo
Pomodoro und Renato Guttoso. Und im
Museum für moderne Kunst, in dem
ebenfalls viele der Künstlerspenden
zu sehen sind, überreicht uns ein
Mitarbeiter stolz einen Katalog zu
Joseph Beuys. Denn auch der Mann mit
dem unvermeidlichen Hut war aus
Deutschland nach Gibellina gereist,
um das Projekt zu unterstützen.
Keine andere Stadt Italiens hat heute solch eine Dichte an moderner Kunst zu bieten - das ist das Aushängeschild des neuen Gibellinas. Doch mögen auch die vielen Kunstwerke ein Blickfang sein, den unverwechselbaren Charakter eines über Jahrhunderte gewachsenen Ortes erreicht die Kleinstadt mit etwa 4400 Einwohnern nicht. Es fehlt die Patina. Und vielleicht auch die Gegenliebe der Bewohner zu mancher Skulptur. Der Bäcker, der uns mürrisch ein paar Stücke Kuchen verkauft, würdigt die Konstruktion aus Stahlstreben vor der Eingangstür jedenfalls nicht mit enthusiastischem Blick.
Ob das derjenige geahnt hatte, der
damals als einziger Künstler aus der
Reihe tanzte und sich dem
vorgesehenen Areal verweigerte?
Alberto Burri, ursprünglich
Tropenmediziner und Arzt, zog
jedenfalls das verwüstete Gibellina
vecchia für seinen Beitrag vor. Im
August 1985 begannen in der
Ruinenlandschaft, die ihn tief
berührt hatte, die Arbeiten an „Il
Cretto”. Es ist kaum vorstellbar,
wie viele Baumaschinen und Lastwagen
mit Zement anrollen mussten, bis das
Mahnmal seine heutige Gestalt
angenommen hatte. Auch
Kinderspielzeug und
Olivenölflaschen, Hausrat und
Kleidung, die sich in den Trümmern
fanden, wurden unter den Betonmassen
begraben. Beim Durchwandern
des Kunstwerks lässt sich das nicht
erahnen. Erstarrt in der Stille
schmiegt es sich an den Hang.
Von Juni bis Oktober allerdings erwacht auch das alte Gibellina Jahr für Jahr zu neuem Leben. Dann finden vor seiner Kulisse die Theaterfestspiele 'Orestiadi di Gibellina’ statt, ebenfalls ein Vermächtnis von Ludovico Corrao: Auf einer Freilichtbühne wird die „Orestie” des griechischen Dichters Aischylos inszeniert.
Informationen
Lektüre
- Sizilien Dumont Reise-Taschenbuch 2010, Ostfildern
- Sizilien Liparische Inseln, Marco Polo 2010
Internet
'Orestiadi di Gibellina' , von Juni bis Oktober Theaterfestspiele: http://www.orestiadi.it