Die drei kleinen grünen Bände
stehen schon länger als 30 Jahre in
meinem Bücherregal. Gelesen habe ich
sie noch nie, und werde es auch wohl
nie tun. Es handelt sich um Dante
Alighieris „Divina Commedia"
– ohne
deutsche Übersetzung der
italienischen Ausgabe bleibt mir die
Göttliche Komödie jedoch vollkommen
verschlossen. Und trotzdem lasse ich
„Inferno", „Purgatorio" und
„Paradiso" an ihrem Platz. Bei
keinem Umzug habe ich sie
weggeworfen: Sie erinnern mich an
Giuseppe M.
Noch immer verblüfft mich die überraschende Gastfreundschaft, Offenheit und Vorurteilslosigkeit, mit der er uns damals begegnete. Damals, das war Mitte der 70-er Jahre. Wir, das waren mein Bruder und seine Freundin, mein Freund, unsere Tochter und ich. Mit unseren Klapperkisten waren wir in den Semesterferien über die Alpen gekrochen und nach Italien gefahren, begierig auf alles, was anders war als zu Hause und neu. Aber ohne große Planung und Geld. Wir zelteten da, wo es ein Plätzchen und Wasser gab, manchmal neben einem Campingplatz. Doch möglichst nie auf seinem Gelände: Das war uns einfach zu teuer.
Und eines Tages hatte uns der Lago
di Bolsena als großer blauer Fleck
auf der Landkarte angelockt. Hier,
waren wir sicher, würden wir
irgendwo am Ufer über Nacht bleiben
können. Als es dunkelte, war jedoch
klar, dass wir uns geirrt hatten.
Der See war nahe bei Montefiascone
umringt von Privatgrundstücken; wo
sie fehlten, standen
Verbotsschilder. „Campeggio
prohibito", Camping verboten,
hieß es fast überall. Doch nicht nur
die Jüngste unter uns war hundemüde
von der Fahrerei. Schließlich bauten
wir unser Zelt auf, weil uns nichts
Besseres einfiel, genau unter einem
solchen Schild. Zum Ausrollen der
Schlafsäcke kamen wir nicht mehr.
Giuseppes Ankunft kündigte sich an,
noch lange bevor wir ihn sahen
– durch das
immer lauter werdende
Motorengeräusch.
Genau neben uns brachte er seine Moto Guzzi zum Halten. Ein Polizist! Uns schwante nichts Gutes, das Nachtquartier war hin. Die Verständigung war mühsam und trotzdem unmissverständlich: Wir mussten packen. Ausgerechnet mir bedeutete Giuseppe – Ende zwanzig, Anfang 30 mochte er wohl sein – , jetzt hinter ihm auf die Moto Guzzi zu klettern. Das hatte ich nun von der Hochstapelei, ein paar erinnerte Italienischbrocken aus einem einsemestrigen Uni-Kursus zum besten gegeben zu haben. Als er Gas gab, schossen mir bange Fragen durch den Kopf. Wo ging es nun hin? Zur Polizeistation, die Personalien aufnehmen? Drohte uns ein Bußgeld, gar die Festnahme?
Doch die Fahrt endete an einem
überraschenden Ort
– bei einer
Gaststätte am See. Als Giuseppe
lebhaft auf den Gastwirt einredete,
hatte ich längst ein gefülltes Glas
in der Hand, meine erste
Bekanntschaft mit dem Est! Est!
Est!, dem berühmten Weißwein der
Gegend. Es war wohl nicht das
einzige geblieben. Ganz sicher auf
den Beinen sei ich nicht mehr
gewesen, als mich der Ordnungshüter
zurückbrachte, versicherte mein
Bruder danach. Doch unser Problem
war gelöst. Die Beziehungen zwischen
der Polizei und der Gastronomie,
verkörpert durch Giuseppe und den
Mann von der Trattoria, waren
sichtlich gut. Denn letzterer
gewährte uns für drei Nächte
Unterschlupf auf seinem
Wochenendgrundstück am Lago,
bedingungs- und kostenlos.
Und Giuseppe? Der nahm sich zwei Tage frei und zeigte uns seine Stadt. Hatten wir vom Seeufer aus ihre eindrucksvolle Silhouette hoch oben auf dem Hügel bewundert, so folgten wir ihm nun durch die alten Gassen. Er führte uns als erstes zu der Kirche San Flaviano, einem von Montefiascones Schmuckstücken. In holprigem Englisch erzählte er uns, dass der Prunkbau aus dem 12. Jahrhundert zur letzten Ruhestätte für einen deutschen Prälaten geworden war. In der dritten Kapelle, erfuhren wir, ruhe der Augsburger Johannes Fugger in seinem Sarkophag. Der Abkömmling der berühmten Kaufmannsdynastie habe sich in Montefiascone – nun ja, totgesoffen, ließ uns Giuseppe wissen: So gut sei der Wein seiner Heimat. Besser hätte uns kein offizieller Fremdenführer die vielfach kolportierte Geschichte des Est! Est! Est! weitergeben können.
Seinen ungewöhnlichen Namen
verdankt dieser nämlich dem
trinkfreudigen deutschen
Würdenträger, der im Jahr 1110
seinem Kaiser Heinrich V. nach Rom
folgte. Immer auf der Suche nach
einem guten Tropfen, schickte er
seinen Diener Martin als
Weintester voraus. Jede Schenke mit
gutem Wein sollte der mit dem
lateinischen Wörtchen „est"
kennzeichnen, sinngemäß „hier ist er
(gut)". In Montefiascone war er von
dem Ausgeschenkten so begeistert,
dass er seinem Herrn das Signalwort
gleich dreifach hinterließ. Johannes
Fugger war genauso hingerissen von
dem Wein und hinterließ nach seinem
Ableben zehntausend Goldmark, weil
bei jeder Jährung seines Todestags
ein wenig davon über sein Grab
gegossen werden sollte.
Wir selbst genossen den Weißen abends am See, das Schilf am Ufer wiegte sich im Wind. Giuseppes Frau kam hinzu,mit einem leckeren geschmorten Hühnchen. Sie war zurückhaltend und recht still. Ich erinnere mich nicht mehr, ob sie Englisch sprach. Vielleicht waren ihr die Fremden – langhaarige junge Männer und Frauen in bunten Schlabberröcken, die sich trotz Ebbe in der Kasse einen Auslandsurlaub leisteten, nicht miteinander verheiratet waren und anscheinend noch keiner geregelten Arbeit nachgingen wie der junge Staatsdiener und Familienvater an ihrer Seite – auch ein wenig suspekt. Falls dem so war, steckte Giuseppe das unbeirrt weg.
Er nahm uns wie selbstverständlich
auch zu seinem Arbeitsplatz, der
Polizeiwache, mit, und stellte uns
seinem Chef und dem Rest des Teams
vor. Höfliches Händeschütteln, der
Capitano begrüßte uns. Ob Giuseppes
Kollegen ihn wohl insgeheim
belächelt haben, weil er so viel
kostbare Freizeit mit uns
verbrachte, ohne selbst den
geringsten Nutzen davon zu haben?
Ein Jahrzehnte altes Bild erinnert an den Besuch auf der Wache. Giuseppe, mit der Dienstmütze über dem rundlichen Gesicht und in einer etwas zu eng sitzenden Uniform, lässt unsere Tochter vor der Tür auf die Moto Guzzi klettern. Mit offenem Blick schaut er in die Kamera.
Dann lief unsere Frist mitsamt dem Asyl am See ab. Abschied nahmen wir in Giuseppes eigenen vier Wänden. Sein kleiner Sohn Luca sah uns neugierig an, das Töchterchen war noch ein Säugling und erst vor kurzem getauft. Ein nachgedunkeltes Dia zeigt uns im sorgsam gepflegten Wohnzimmer, nebeneinander auf dem Sofa aufgereiht. Dort überreichte uns Giuseppe feierlich die Dante-Ausgabe und einen kunsthistorischen Bildband über seine Heimatstadt. Auch „Montefiascone nei suoi monumenti" behauptet bis heute seinen Platz in meinem Regal, wenngleich ebenso ungelesen wie die Göttliche Komödie. Wir selbst hatten uns damals mit einer Flasche Whisky in der Preisklasse revanchiert, die in unserer Reichweite lag, vermutlich ein eher bescheidener Genuss. Wein schien uns wohl nicht so recht das Passende in einer Gegend, die von seinem Anbau lebt.
Unsere kleine Reisegruppe war nicht mehr oft zusammen unterwegs, unsere Wege trennten sich im Lauf der Jahre. Nach Montefiascone bin ich nur noch einmal gekommen, mit einem anderen Begleiter, auf der Durchreise und für wenige Stunden nur. Nicht ganz die richtige Ausgangslage, um an der Polizeiwache anzuklopfen und nach einem vermutlich längst pensionierten Kollegen zu fragen, der mich wohl ebenso wenig wiedererkennen würde wie ich ihn. Doch heute noch öffne ich hin und wieder statt eines spanischen oder französischen Rotweins eine Flasche mit strohgelbem Est! Est! Est! Und sofort wird die Erinnerung an die Stadt am See und ihren Botschafter in Uniform wieder wach.
Siehe auch: Jagd nach dem Est! Est! Est! (Rund um Glas und Gabel)
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