Dienstag, 13. Juli 2004. Der
Berggipfel, den wir vor wenigen
Tagen schon einmal passiert haben,
ist jetzt nicht mehr
wiederzuerkennen. Friedlich grasende
Kühe und auch ein paar Ziegen hatten
den von Nebel verhangenen Col
d’Aspin damals ganz für sich. Nun
jedoch ist es mit der Ruhe vorbei.
Fast 70 Campingfahrzeuge sind in
1489 Metern Höhe versammelt, überall
stehen palavernde Grüppchen vor
geöffneten Türen beisammen.
Wir sind keine Minute zu früh gekommen und quetschen uns schnell ans Ende der Schlange, die sich am Rand eines Feldwegs aufgereiht hat. Nur noch drei Tage, dann wird der Tross der 91.Tour de France auf seiner ersten Hochgebirgsetappe hier vorbeikommen – das Ereignis, dem alle entgegenfiebern. Darauf warten die Besitzer eines wüstentauglich umgebauten Lastwagens wenige Meter vor uns ebenso wie die spanische Familie, die gerade auf der gegenüberliegenden Wiese vor ihrem Wohnwagen picknickt, und die beiden Mittsechziger aus Mittelhessen, vor allem aber die vielen Sportfans aus Frankreich.
Mit Lebensmittelvorräten haben nicht nur wir uns gut für die nächsten Tage eingedeckt. Auch von den anderen Campern scheint sich jetzt kaum jemand mehr hinunter ins Tal zu trauen, um in einem Laden im zwölf Kilometer entfernten Städtchen Arreau oder in Campan, das für seine lustigen lebensgroßen Stoffpuppen vor vielen Haustüren bekannt ist, für Nachschub zu sorgen. Schließlich könnte der Logenplatz auf dem Pass bei der Rückkehr schon von anderen Fahrzeugen besetzt sein.
Der soll jetzt auch nicht mehr zum
Nulltarif zu haben sein: Plötzlich
sind Polizisten und
Mitarbeiter der Mairie aufgetaucht.
Sie verlangen von jedem, der hier
mit seinem rollenden Zuhause
ausharren will, eine Gebühr. Ein
kleiner Tumult erhebt sich. Die
Franzosen unter den Campern beweisen
am Vortag ihres Nationalfeiertags,
dass der Geist der
Revolution von 1789 keineswegs
ganz erloschen ist. „Wir
zahlen nichts
– wofür denn
auch?” schallt es den Eintreibern
lautstark entgegen. Schließlich
fehle jede Gegenleistung, sind sich
die meisten einig. Ohne die
geringsten Ansätze von
Infrastruktur, wie man sie auf
Stell- oder Campingplätzen finde,
rücke man keinen Euro heraus. Am
heftigsten setzt sich eine kleine
alte Dame gegen das Ansinnen zur
Wehr. Madame in ihrem
Trachtenjäckchen schimpft und
schimpft
–
offensichtlich so wirkungsvoll, dass
es an diesem Abend nicht mehr zum
Abkassieren kommt.
Mittwoch, 14. Juli. Gut, dass
wir noch rechtzeitig angekommen
sind. Als wir am nächsten Morgen
aufwachen, ist die Parkplatzzufahrt
nämlich schon mit Pfosten und
Flatterbändern abgesperrt.
Neuankömmlinge haben das Nachsehen:
Hier findet jetzt niemand mehr
Platz. Dafür sind etliche mobile
Klohäuschen und Mülltonnen aus dem
Tal heraufgeschafft worden. Jetzt
gibt es keinen Grund mehr, die
Übernachtungsgebühr zu verweigern
– und um die
kommen die wartenden Camper nun auch
nicht mehr herum. Vorn in Richtung
Straße wird außerdem noch ein Zelt
mit Getränkebude aufgebaut. Der
Nationalfeiertag soll am Abend
gebührend begangen
werden.Trinkwasserhähne gibt es auf
der improvisierten Campingfläche
natürlich nicht. Die Spanier mit dem
Wohnwagen scheinen mit dem kostbaren
Nass bereits ein wenig knapp dran zu
sein. Die Laune lassen sie
sich dadurch aber nicht verderben.
Vorbei an gelassen äugenden Kühen
steuern sie einfach die Viehtränke
am jenseits der Straße liegenden
Han
g an.
Auch die kleine alte Dame taucht jetzt wieder vor ihrem Wohnmobil auf – mit Lockenwicklern im verblichenen Haar und einer Ausstrahlung von ungebrochenem Selbstbewusstsein. Dominant wie am Vortag steht sie mitten in einem Pulk von Leuten. Sehr souverän, finde ich. So würden sich nicht viele Frauen in aller Öffentlichkeit zeigen. Ich muss sie einfach ansprechen, möchte außerdem gern mein Französisch aufpolieren.
Dazu komme ich aber nicht: Madame spricht deutsch und zeigt es mit Vergnügen. Das habe sie langen Berufsjahren in einer Bar in Paris zu verdanken, verrät die 82-Jährige. Deutsch habe sie der Gäste wegen und ganz allein aus einem Buch gelernt, erfahre ich. „Jeden Tag zwei Wörter, das klappt”, verkündet sie und hat offensichtlich recht. Das halbe Jahr verbringt Madame zusammen mit ihrem Mann in Marokko, die andere Hälfte in Frankreich. Und dann ist es für beide ein Muss, die Tour de France zu sehen. Deshalb schon mal die Lockenwickler: „Ich will doch schöne Frau sein, wenn sie kommen”, sagt Madame verschmitzt.
Auf dem Areal ist mittlerweile eine
ganze Menge los: Immer mehr
Medienvertreter und
Übertragungswagen trudeln dort ein.
Wohin mit ihnen? Die Polizei schafft
schließlich Platz für sie
– auf der
Wiese mit bestem Blick ins Tal, von
wo sich die Radler den Berg
hinaufquälen werden. Dafür müssen
die Camper auf dieser Fläche aber
weichen. Nicht jeder verkraftet die
Aufforderung, sich unterhalb des
Passes einen anderen Platz zu
suchen. Der Spanier, der schon so
lange mit seiner Familie hier
ausgeharrt hat, ist besonders
schockiert. Ein spektakulärer
Auftritt folgt: Schreiend wälzt er
sich vor Wut und Enttäuschung im
Gras, was die französischen
Ordnungshüter aber nicht
beeindruckt. Auch die
temperamentvolle kleine Madame und
ihr Mann müssen das Feld räumen,
tragen es jedoch mit überraschender
Fassung. Schön, dass wir uns vor
wenigen Stunden noch so ausführlich
unterhalten konnten. Wir selbst
stehen zum Glück auf der richtigen
Seite, dort, wo die Wohnmobile
bleiben dürfen. Am Abend ist die
Stimmung auf dem gesamten Gelände
wieder prächtig. Der
Nationalfeiertag geht auch mitten in
den Pyrenäen nicht unter.
Donnerstag, 15. Juli 2004. Noch
einen ganzen Tag lang müssen wir
warten. Die Teams der Tour de France
sind heute noch weit entfernt, erst
auf der Etappe von St. Flour nach
Figeac unterwegs. Ungeduldig wird
aber niemand von den Campern, die
mit ihren Wohnmobilen sonst eher zu
den Zugvögeln gehören. Pfade und
Wege für Wanderungen mit
spektakulärer Aussicht gibt es
schließlich genug. Von der Passhöhe
aus kann der Blick über das Aure-Tal
schweifen, über die Serpentinen der
Ostauffahrt zum Col d’Aspin aus
Richtung Arreau und bis zum Pic du
Midi de Bigorre. Viele der
Ausharrrenden, darunter wir selbst,
erkunden ausgiebig die schöne
Umgebung.
Andere nehmen entspannt ein stundenlanges Sonnenbad oder machen es sich mit einem Buch bequem. Fachsimpeln über die Fahrzeuge ist eine weitere Option: So vertreiben sich viele Männer die Zeit. Vorzubereiten gibt es anscheinend auch nicht mehr viel für den großen Tag morgen. Ein paar Helfer bringen mit Farbe nur noch ein paar Markierungen auf der gewundenen Straße auf.
Mehr als 60 Mal hat die Route des
legendären Radrennens schon über den
Col d’Aspin geführt. Er ist nach dem
Col du Tourmalet und dem
Col d’Aubisque der am
dritthäufigsten befahrene Pass der
Tour, den die Radler I910 erstmals
bezwingen mussten. Immer wieder
säumten begeisterte Zuschauer
seitdem die Straßenränder der D 918,
feuerten die Teams an und feierten.
Meistens friedlich, doch mit einer
unrühmlichen Ausnahme: 1950 kam es
hier zu heftigen Turbulenzen,
nachdem aggressive Fans zwei Fahrer
zu Fall gebracht und einen von ihnen
auch nach seinem Sturz noch
attackiert hatten. Die hiervon
betroffene italienische Mannschaft
nahm nach dieser Etappe aus Protest
nicht mehr an der damaligen Tour
teil.
Es ist kaum vorstellbar, wie es vor
mehr als einem halben Jahrhundert zu
einer solchen Eskalation vor der
friedlichen Bergkulisse kommen
konnte
– schon gar
nicht in der entspannten
Atmosphäre, die heute Abend
auf dem Pass herrscht. Die Tour
zieht schließlich keineswegs nur
eingefleischte Sportfans und echte
Kenner des Radsports an. Wer vor
allem das aufregende Sommerhighlight
hautnah miterleben will wie so
mancher hier, der hat mit
verbissenem Wetteifern nicht viel im
Sinn.
Freitag, 16. Juli 2004. Niemand hat es heute beim Frühstücken eilig. Die Radler der Tour werden ohnehin erst gegen 12 Uhr in Castelsarrasin starten. Knapp 198 Kilometer lang ist die erste Pyrenäen-Etappe, die in La Mongie am Col de Tourmalet enden wird, und wenn die Sportler den Col d’Aspin erreichen, haben sie schon 172 Kilometer zurückgelegt. Dafür brauchen sie ein paar Stündchen. Erst am frühen Nachmittag schlendern die ersten der Camper deshalb zur Straße, erklimmen die Anhöhen und suchen mit den Augen den Serpentinenverlauf ab. Noch nichts zu sehen! Ein Fan streckt sich unter einer großen texanischen Flagge am Straßenrand entspannt zu einem Nickerchen aus. Das blau-weiß-rote Tuch mit dem weißen Sternchen ist die weithin sichtbare Hommage an den Amerikaner Lance Armstrong, der als bisher fünffacher Sieger bei der Tour de France erneut um den Titel ringt.
Allmählich verwandeln sich die
Almwiesen am Rand der Strecke jedoch
in immer dichter belegte Parkplätze.
Scharen von Menschen strömen aus dem
Tal bergan und suchen dann einen
guten Platz an der Straße. Eine
Veränderung zeigt sich jetzt auch
beim Blick nach oben: Der Himmel
zieht sich zu, die Sonne
entschwindet, und das ausgerechnet
heute! Schon setzt höchst
unerwünschter Regen ein, überall
werden Capes entfaltet und Schirme
aufgeklappt.
Da! Die Tour kündigt sich endlich an. Und zwar durch die unvermeidlichen Begleitfahrzeuge mit Werbebannern und Lautsprechern sowie Polizeiautos und Sicherheitskräfte. Flatterbänder säumen die Straße, die jetzt natürlich nicht mehr überquert werden soll. Die Spannung hat in den zurückliegenden Stunden erst kaum merklich, dann immer mehr zugenommen. Nun endlich steigert sie sich fast ins Unerträgliche. Lange dauert es nicht mehr, dann tauchen tatsächlich die ersten Fahrer auf dem vor Nässe glänzenden Asphaltband auf, gefolgt vom Feld. Die Menge jubelt.
Wusch! Wusch! Wusch! War’s das wirklich schon gewesen? Der Grund für drei Tage Warten auf dem Col d’Aspin ist in Minutenschnelle vorbeigerauscht, für uns der Höhepunkt der ganzen Tour de France. Den haben die Fahrer jedoch – wörtlich genommen – noch nicht mal an diesem Tag erreicht. Sie müssen sich schließlich noch bis zum Skiort La Mongie am Col de Tourmalet hinaufschrauben, auf eine Höhe von fast 1700 Metern.
Informationen
Der Col d’Aspin liegt auf der Nordseite der Pyrenäen an der D918 in Südfrankreich.
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