Die meisten Besucher bleiben nicht
lang. Ein schnelles Selfie vor dem
Ortsschild, und schon sind sie
wieder weg. Das Besondere an dem
Ortseingang zu dem winzigen Nest, an
dem sie nur für Minuten innehalten:
Ein einziger Buchstabe gibt dem
Dörfchen im Département Somme in der
Picardie seinen Namen. Einfach nur Y
heißt es. Kürzer geht es nicht
– es sei
denn, man würde der Aussprache des
so genannten i grec folgen und es,
noch ein bisschen schlanker,
schlicht mit einem I schreiben.Das aber würde der Herkunft des
Ortsnamens so gar nicht gerecht,
denn er ist schlicht nach der
Anordnung seiner wichtigsten Straßen
benannt. Wo die Départementstraßen
15 und 615 aufeinandertreffen,
formen sie ein Ypsilon
– und die
nicht mal 100 Einwohner nennen sich
folglich Ypsiloniens und
Ypsiloniennes.
Natürlich lasse auch ich mich als erstes vor dem Ortsschild ablichten. Doch meine Stippvisite soll ein bisschen länger dauern als der Fotoklick zur Erinnerung, den ein belgischer Motorradfahrer bereitwillig für mich übernommen hat. Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz vor dem schmalen, langgezogenen Friedhof ab, zu dem eine baumbestandene Allee führt. Das Tor zur Ruhestätte der Toten ist jedoch fest verschlossen – überraschend für mich in Frankreich, wo ich schon so viele schöne alte Friedhöfe besucht habe.
Nur eine Handvoll Straßen gibt es insgesamt in Y. Zunächst schlendere ich die Route de Roisel entlang. Kaskaden von Glyzinienblüten ergießen sich malerisch über eine Hauswand zu meiner Rechten. In einem nüchternen Zweckbau auf der linken Straßenseite, der als Mairie fungiert, hält der Bürgermeister ein paar Stunden pro Woche seine Sprechstunde ab. Über dem Eingang wehen die Trikolore und auch die Europafahne. „École” ist auf dem angrenzenden Gebäudetrakt zu lesen. Doch dass es heute auch nur eine einklassige Schule in dem Örtchen gibt, kann ich mir angesichts der geringen Einwohnerzahl nicht vorstellen. Ich kann auch niemanden danach fragen. Denn nun, in der Mittagszeit, ist Y wie ausgestorben. Ich begegne keiner Menschenseele.
Vorbei an einem schmucken
herrschaftlichen Anwesen gelange ich
zur Kirche Saint-Médard, der
zentrale Blickfang des gesamten
Örtchens. Der Backsteinbau, der im
Ersten Weltkrieg stark beschädigt
worden war, ist erst in den 1920er
Jahren in seiner heutigen Form
errichtet worden. Mein Blick
schweift an seinem Turm mit den
schönen alten Uhrzifferblättern
hinauf – und
bleibt dann belustigt an den
schmalen Fensteröffnungen hängen. Da
ist es wieder, das „Y” ;
gleich zweifach schmückt es deren
Spitzen.
Meine Vorstellung, im Dorf einen Kaffee zu trinken, habe ich jetzt schon zu den Akten gelegt. Wie sollte sich dort auch ein Café halten können? Auch einen Laden erspähe ich nicht. Die Infrastruktur ist karg. Immerhin hält mehrmals am Tag ein Bus der Linie 50 im Ort, bringt die Fahrgäste ein paar Dörfer weiter. Und einen Briefkasten gibt’s, an einem Gebäude in der Route de Matigny. Wo und wie wären die Marken wohl abgestempelt worden, hätte ich ein paar Urlaubskarten an meine Lieben dort eingeworfen? Als Andenken wäre das „Y” sicher begehrt. Auf meinem Rundgang komme ich noch an einem landwirtschaftlichen Maschinenpark vorbei, verwaist in der Mittagsstille. Auch bei den schweren Fahrzeugen ist niemand zu sehen.
Nach einer guten halben Stunde sind
alle Straßen abgelaufe, und ich
schlendere zurück zu dem Parkplatz
vor dem kleinen Friedhof. Letzterer
müsste eigentlich riesig sein, nach
einer skurrilen Geschichte, die im
Internet nachzulesen ist. Demnach
schien eine genealogische Website in
den späten 2000er Jahren auf eine
ungeheure Zahl an Todesfällen in Y
hinzuweisen. Ahnenforscher aus aller
Welt, die ihren Vorfahren
nachspürten, stellten verblüfft
fest, dass viele anscheinend
ausgerechnet in Y das Zeitliche
gesegnet hatten
– auch
solche, die noch niemals einen Fuß
auf französischen Boden gesetzt
hatten.
Das rätselhafte Ergebnis, demzufolge in dem Dorf mit einer Bevölkerungsspitze von gerade mal 226 Einwohnern im Jahr 1866 um ein Vielfaches mehr Menschen gestorben waren als jemals dort gelebt hatten, stellte sich jedoch als Folge eines technischen Fehlers heraus. Ein fälschlich in einer Spalte bloß als Platzhalter eingetragenes Y wurde verwandelt in „Y, Somme, Picardie, France”, dann zehntausendfach vervielfältigt – et voilà! Gut, dass das Problem schnell behoben werden konnte. Verschlafen mag Y ja sein, ein besonders tödliches Pflaster ist das Dörfchen aber sicher nicht.
Hingegen haben die Bewohner des Orts mit dem besonders kurzen Namen offensichtlich Humor. Die Ypsiloniens sind zum einen mit dem ebenfalls der Buchstabenknappheit verhafteten niederländischen Ort Ee verpartnert – und zum anderen mit Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch. Diese Gemeinde in Großbritannien hat den längsten amtlichen Ortsnamen in ganz Europa.
Informationen
Anreise
Y ist 42 Kilometer von Amiens entfernt,nach Arras sind es 75 Kilometer. Der Ort ist über die D15 und die D615 zu erreichen.
Die Koordinaten: 49° 48' 12'' Nord, 02° 59' 31'' Ost
Internet
- Atout France - Französische Zentrale für Tourismus, Postfach 100128, 60001 Frankfurt am Main, www.rendezvousenfrance.com
- www.atlasobscura.com/places/y-france (englischsprachige Seite mit skurriler Geschichte zum Ort Y)