Kurz und bündig: Dem Dörfchen Y im Norden Frankreichs gibt ein einziger Buchstabe seinen Namen.

Stippvisite bei den Ypsiloniens

Einen kürzeren Ortsnamen findet man in ganz Frankreich nicht: Einfach nur Y heißt das winzige Dorf im Département Somme im Norden des Landes mit nicht mal hundert Einwohnern.

Von Renate Brämer

Die meisten Besucher bleiben nicht lang. Ein schnelles Selfie vor dem Ortsschild, und schon sind sie wieder weg. Das Besondere an dem Ortseingang zu dem winzigen Nest, an dem sie nur für Minuten innehalten: Ein einziger Buchstabe gibt dem Dörfchen im Département Somme in der Picardie seinen Namen. Einfach nur Y heißt es. Kürzer geht es nicht es sei denn, man würde der Aussprache des so genannten i grec folgen und es, noch ein bisschen schlanker, schlicht mit einem I schreiben.Kurzer Halt: Wie die meisten Besucher machen auch die beiden belgischen Motorradfahrer ein Erinnerungsfoto vor dem Ortsschild.Das aber würde der Herkunft des Ortsnamens so gar nicht gerecht, denn er ist schlicht nach der Anordnung seiner wichtigsten Straßen benannt. Wo die Départementstraßen 15 und 615 aufeinandertreffen, formen sie ein Ypsilon und die nicht mal 100 Einwohner nennen sich folglich Ypsiloniens und Ypsiloniennes.

Natürlich lasse auch ich mich als erstes vor dem Ortsschild ablichten. Doch meine Stippvisite soll ein bisschen länger dauern als der Fotoklick zur Erinnerung, den ein belgischer Motorradfahrer bereitwillig für mich übernommen hat. Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz vor dem schmalen, langgezogenen Friedhof ab, zu dem eine baumbestandene Allee führt. Das Tor zur Ruhestätte der Toten ist jedoch fest verschlossen überraschend für mich in Frankreich, wo ich schon so viele schöne alte Friedhöfe besucht habe.

Nur eine Handvoll Straßen gibt es insgesamt in Y. Zunächst schlendere ich die Route de Roisel entlang. Kaskaden von Glyzinienblüten ergießen sich malerisch über eine Hauswand zu meiner Rechten. In einem nüchternen Zweckbau auf der linken Straßenseite, der als Mairie fungiert, hält der Bürgermeister ein paar Stunden pro Woche seine Sprechstunde ab. Über dem Eingang wehen die Trikolore und auch die Europafahne.  École” ist auf dem angrenzenden Gebäudetrakt zu lesen. Doch dass es heute auch nur eine einklassige Schule in dem Örtchen gibt, kann ich mir angesichts der geringen Einwohnerzahl nicht vorstellen. Ich kann auch niemanden danach fragen. Denn nun, in der Mittagszeit, ist Y wie ausgestorben. Ich begegne keiner Menschenseele.

Schmucker Blickfang: Die aus Backsteinen errichtete Kirche Saint-Médard überragt mit ihrem Turm das Dorf.Vorbei an einem schmucken herrschaftlichen Anwesen gelange ich zur Kirche Saint-Médard, der zentrale Blickfang des gesamten Örtchens. Der Backsteinbau, der im Ersten Weltkrieg stark beschädigt worden war, ist erst in den 1920er Jahren in seiner heutigen Form errichtet worden. Mein Blick schweift an seinem Turm mit den schönen alten Uhrzifferblättern hinauf und bleibt dann belustigt an den schmalen Fensteröffnungen hängen. Da ist es wieder, das Y” ; gleich zweifach schmückt es deren Spitzen.

Meine Vorstellung, im Dorf einen Kaffee zu trinken, habe ich jetzt schon zu den Akten gelegt. Wie sollte sich dort auch ein Café halten können? Auch einen Laden erspähe ich nicht. Die Infrastruktur ist karg. Immerhin hält mehrmals am Tag ein Bus der Linie 50 im Ort, bringt die Fahrgäste ein paar Dörfer weiter. Und einen Briefkasten gibt’s, an einem Gebäude in der Route de Matigny. Wo und wie wären die Marken wohl abgestempelt worden, hätte ich ein paar Urlaubskarten an meine Lieben dort eingeworfen? Als Andenken wäre das Y” sicher begehrt. Auf meinem Rundgang komme ich noch an einem landwirtschaftlichen Maschinenpark vorbei, verwaist in der Mittagsstille. Auch bei den schweren Fahrzeugen ist niemand zu sehen.

Keineswegs überdimensioniert: Der Friedhof von Y nahe dem Ortseingang präsentiert sich dem Betrachter schmal und langgezogen.Nach einer guten halben Stunde sind alle Straßen abgelaufe, und ich schlendere zurück zu dem Parkplatz vor dem kleinen Friedhof. Letzterer müsste eigentlich riesig sein, nach einer skurrilen Geschichte, die im Internet nachzulesen ist. Demnach schien eine genealogische Website in den späten 2000er Jahren auf eine ungeheure Zahl an Todesfällen in Y hinzuweisen. Ahnenforscher aus aller Welt, die ihren Vorfahren nachspürten, stellten verblüfft fest, dass viele anscheinend ausgerechnet in Y das Zeitliche gesegnet hatten auch solche, die noch niemals einen Fuß auf französischen Boden gesetzt hatten.

Das rätselhafte Ergebnis, demzufolge in dem Dorf mit einer Bevölkerungsspitze von gerade mal 226 Einwohnern im Jahr 1866 um ein Vielfaches  mehr Menschen gestorben waren als jemals dort gelebt hatten, stellte sich jedoch als Folge eines technischen Fehlers heraus. Ein fälschlich in einer Spalte bloß als Platzhalter eingetragenes Y wurde verwandelt in Y, Somme, Picardie, France”, dann zehntausendfach vervielfältigt et voilà!  Gut, dass das Problem schnell behoben werden konnte. Verschlafen mag Y ja sein, ein besonders tödliches Pflaster ist das Dörfchen aber sicher nicht.

Hingegen haben die Bewohner des Orts mit dem besonders kurzen Namen offensichtlich Humor. Die Ypsiloniens sind zum einen mit dem ebenfalls der Buchstabenknappheit verhafteten niederländischen Ort Ee verpartnert und zum anderen mit Llanfairpwll­gwyngyllgogery­chwyrndrobwll­llantysilio­gogogoch. Diese Gemeinde in Großbritannien hat den längsten amtlichen Ortsnamen in ganz Europa.

Informationen

Anreise

 

Y ist 42 Kilometer von Amiens entfernt,nach Arras sind es 75 Kilometer. Der Ort ist über die D15 und die D615 zu erreichen.

Die Koordinaten: 49° 48' 12'' Nord, 02° 59' 31'' Ost

 

Internet

  • Atout France - Französische Zentrale für Tourismus, Postfach 100128, 60001 Frankfurt am Main, [email protected], www.rendezvousenfrance.com
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