Zu sehen ist hier kaum mehr etwas
von dem entsetzlichen Gemetzel. Wind
und Wetter haben viele der einstigen
Schützengräben im Wald nördlich von
Verdun zur Mulde abgeflacht.
Zwischen raschelndem Laub und dem
Moos, das die Ränder überzieht,
recken Ende März 2016 die ersten
Schlüsselblumen ihre Blüten dem
Licht entgegen und künden vom
nahenden Frühling. Ein friedlicher
und auch berührender Anblick. Ich
kann mir nur schwer vorstellen, dass
Hunderttausende junger Soldaten am
gleichen Ort im Dreck lagen,
aufeinander schossen und starben.
Auch das Gelände rund um die Ruinen
der Festungsanlage auf der Anhöhe
von Froideterre umgibt jetzt zartes
Grün; seltene Tierarten wie der
Bergmolch und die Königslibelle
beleben die mit Wasser gefüllten
einstigen Bombentrichter.
Doch war dasselbe Areal 1916 der Schauplatz einer der fürchterlichsten Schlachten des Grande Guerre, wie der Erste Weltkrieg in Frankreich noch heute genannt wird. In den zehn Monaten vom 21. Februar bis zum 19. Dezember kamen bei Verdun mehr als 300.000 Franzosen und Deutsche ums Leben, 450.000 weitere wurden verletzt oder verstümmelt. Das Erdreich des weitläufigen Schlachtfelds, das durch Schwermetalle, giftige Chemikalien und Unmengen gefährlicher Munitionsreste bis heute verseucht ist, birgt nach Schätzungen noch immer Zehntausende ungeborgener Toter. Eine Reihe von Mahnmalen sowie fast 70 Soldatenfriedhöfe halten hundert Jahre später die Erinnerung an das sinnlose Sterben wach.
Schon von Weitem ist das 46 Meter
hohe Beinhaus von Douaumont in Form
eines Schwertgriffs zu sehen, das
auf dem Gebiet der ehemaligen
gleichnamigen Ortschaft errichtet
worden ist. Die nationale Grabstätte
auf dem einstigen Schlachtfeld
bewahrt die Gebeine von mehr als
130.000 französischen und deutschen
Soldaten auf, die nach den Kämpfen
um Verdun nicht mehr identifiziert
werden konnten. Das bedrückende
Gräberfeld davor ist mehr als 16.000
französischen Gefallenen gewidmet,
deren Namen sich noch feststellen
ließen. Ein Anblick, der wohl die
meisten Betrachter verstummen lässt.
Im September 1984 trafen sich der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl dort zum ersten Mal in der Geschichte der beiden Länder zu einer Versöhnungsfeier. Zur Erinnerung an dieses Treffen, bei dem sich die Politiker vor dem Eingang des Ossuaire an den Händen hielten, wurde vor dem Beinhaus eine Gedenkplatte installiert. „Wir haben uns versöhnt. Wir haben uns verständigt. Wir sind Freunde geworden” lautet die Inschrift.
Von dem Beinhaus fällt der Blick
auf einen weiteren Gedenkort, das
Memorial du Verdun, das anlässlich
des 100. Jahrestags der Schlacht mit
einer umfassenden Ausstellung auf
einer erweiterten Fläche neu
eröffnet worden ist. Mehr als 2000
Sammlerstücke und Dokumente zeichnen
vor allem das Leben der einfachen
Soldaten nach. Wo die Gedenkstätte
steht, befand sich früher der
Bahnhof von Fleury-devant-Douaumont.
Auf dem Areal des wie acht weitere
im Trommelfeuer ausgelöschten Dorfes
erinnern heute steinerne Stelen an
die zerstörten Häuser der Bewohner.
Hier war ein Bauernhof, dort ein
Waschhaus, da der Lebensmittelladen.
Zusammen mit etlichen französischen
Schulklassen, deren Lehrer den
jungen Leuten das so weit
zurückliegende Geschehen
nahezubringen versuchen, streife ich
durch die einstigen Straßen. Die
erst 1979 errichtete Kapelle
Notre-Dame-de-l'Europe nimmt heute
den Platz der zerstörten Dorfkirche
ein.
Die Stadt Verdun selbst beherbergt
gleich mehrere Gedenkstätten. In dem
Städtchen an der Meuse steige ich
zunächst zu dem Bischofssitz neben
der Kathedrale Notre Dame empor, in
dem das Centre Mondial de la Paix,
des Libertés et des Droits de
l’Homme (Weltzentrum für Frieden,
Freiheit und Menschenrechte)
untergebracht ist. Schon im Ehrenhof
stoße ich auf eine Bodenskulptur,
dessen Kreuzform der Künstler
bewusst wie ein Hüpfspiel gestaltet
hat.
Im Wechsel kommen darauf in Form von Briefauszügen französische und deutsche Soldaten des Ersten Weltkriegs zu Wort. „Ich glaube, dass das der letzte Brief ist, den ich Dir schreibe”, befürchtet ein junger Franzose. „Anbei eine Aufnahme aus dem Lazarettaufenthalt”, schreibt ein deutscher Soldat nach Hause. Im Inneren des Gebäudes, das 1916 als Militärkrankenhaus genutzt wurde, zeichnet eine Ausstellung nicht nur das Grauen der Kriegsjahre nach, sondern auch den langen Weg zum Frieden und zur Deutsch-Französischen Freundschaft.
Später passiere ich in der Stadt, die heute nur etwa 18.000 Einwohner hat gegenüber rund 30.000 vor dem Ersten Weltkrieg, den Eingang zur unterirdischen Zitadelle. Sie war Versorgungszentrale für die Truppen und Widerstandssymbol zugleich. Beim weiteren Durchwandern des Ortes halte ich vor dem Siegesdenkmal oberhalb der Einkaufsstraße Rue Mazel inne. Mehr als 70 Stufen sind bis zu einer Krypta zu erklimmen, die eine 30 Meter hohe Säule mit der Skulptur eines Soldaten darauf überragt. Dann steige ich zum Ufer der Meuse herab, wo die von Rodin entworfene Statue „La Défense" ins Blickfeld rückt. Symbolisiert wird „Die Verteidigung” durch einen wütenden Racheengel vor einem sterbenden Soldaten. An der Stadtmauer sind wenig weiter fünf wehrhafte steinerne Soldaten unterschiedlicher Waffengattungen zu sehen.
Verdun war schon lange vor dem
Ersten Weltkrieg einmal ein
geschichtsträchtiger Ort: Dort wurde
im Jahr 843 der Vertrag geschlossen,
der die Teilung des karolingischen
Reichs besiegelte. Doch heute steht
das ansonsten eher verschlafene
Städtchen in Lothringen ebenso wie
der Hartmannsweilerkopf im Elsass
vor allem für die Schrecken des
Ersten Weltkriegs. Ein Jahrhundert
nach dem sinnlosen Massensterben in
dem 300 Tage und Nächte dauernden
Stellungskrieg ist Verdun aber auch
zum Symbol der Versöhnung und zum
Friedensmahnmal geworden.
Wegen seiner historischen Bedeutung zieht der Ort Hunderttausende Besucher jährlich an. Skurril, oder besser gesagt makaber mutet mich jedoch der Aufkleber an, mit dem die Stadt und die Geschäftswelt für den Tourismus werben: Am oberen Rand des Stickers thront ein Stahlhelm, darunter marschieren drei bewaffnete Soldaten - und im Vordergrund strahlt eine junge Familie mit ungebremster Heiterkeit in die Kamera, als wolle sie gerade einen Zoo oder Freizeitpark besuchen. Das ist Verdun wahrhaftig nicht.
Informationen
Anreise
- Mit dem Auto über Metz auf der A4 Richtung Reims/Paris, dann weiter auf der D964 Richtung Haudainville und Verdun. Mit dem Zug entweder über Metz oder Straßburg bis zum Bahnhof TGV Meuse.
Internet
Atout France - Französische Zentrale für Tourismus, Postfach 100128, 60001 Frankfurt am Main, www.rendezvousenfrance.com