„Vamos, vamos, vamos!” Ungeduldig
klatscht der Sportlehrer auf dem
Rasen in die Hände und spornt die
schwitzenden jungen Leute lautstark
an. Noch ein paar mehr Liegestütze
sollen es schon sein, ehe sie sich
eine Pause gönnen dürfen. Was uns da
zu Ohren kommt, als wir aus unserem
nahe dem Sportplatz geparkten
Wohnmobil geklettert sind, kommt uns
ausgesprochen spanisch vor
– zu Recht.
Unser Zwischenstopp in der Kleinstadt Llívia nicht weit von Font Romeu unterbricht tatsächlich unseren Urlaub in den französischen Pyrenäen, wenn man es genau nimmt: Hier sind wir auf spanischem Staatsgebiet. Die kleine Enklave, die wie eine Insel rundum von Frankreich eingeschlossen ist, ist ein Kuriosum und verdankt ihre Existenz einem Jahrhunderte zurückliegenden Versehen. Nachdem 1659 nach langen Kriegsjahren der Pyrenäenfrieden zwischen Frankreich und Spanien geschlossen worden war, musste Spanien 33 Dörfer der Cerdagne an das nördliche Nachbarland abtreten. Doch stellte sich schnell heraus, dass Llívia nicht wie zunächst gedacht dazu gehörte: Der katalanische Ort besaß schon seit langem die Stadtrechte und war somit kein Dorf. Deshalb gehört er bis heute zu Spanien.
Diesen Sonderstatus macht sich die
Enklave, die mit einer Fläche von
knapp 13 Quadratkilometern sechs bis
sieben Mal so groß wie Monaco ist,
kräftig zur Touristenwerbung
zunutze. Große Schilder weisen
Besucher und Durchreisende vor den
Ortseingängen darauf hin. Wer
Minuten zuvor noch ein französisches
Dörfchen durchfahren hat, staunt: In
den Schaufenstern Llívias kündet der
Hinweis „rebajas” von den
Sonderangeboten des Schlussverkaufs,
dicke runde Briefkästen in knalligem
Gelb warten am Straßenrand auf
„correos” statt auf „lettres” wie in
Frankreich, und natürlich tragen die
meisten Autos spanische
Nummernschilder. Auch das rege
Handy-Geschnatter in den Straßen
wird durch spanische und
katalanische Klänge geprägt,
Französisch hören wir hier so gut
wie gar nicht.
Weniger als 1300 Einwohner leben in dem sonst eher unscheinbaren Gebirgsort, dessen alter Kern rund um die Kirche Nuestra Señora de los Ángeles aus dem 15. Jahrhundert zu finden ist. Wir betrachten die steinernen Stufen zum Kirchenportal; in sie sind Namen und Daten eingemeißelt, deren Bedeutung uns verborgen bleibt. Aus einem nahen Brunnen rieselt erfrischendes Nass. Langsam bummeln wir weiter durch die Gassen mit Häusern voller Blumenschmuck. Manche der dicken Steinmauern bieten in einer Nische einer Madonnen- oder Heiligenfigur Platz. Höchst weltlich wirkt dagegen vor einem Gebäude die Hundeskulptur mit der Inschrift „Dick – 1993”. Die Hommage eines Tierfreunds an einen verblichenen Vierbeiner?
Kleine Läden bieten Souvenirs und
Spezialitäten an, gutbesuchte Cafés
und Restaurants gruppieren sich um
die Plaça major, den zentralen Platz
der Altstadt. Hier sehen wir immer
noch zahlreiche Restaurantbesucher
beim Mittagessen
– zu einer
Zeit, zu der im nahen Frankreich die
Tische längst wieder abgeräumt sind.
Auch das unterstreicht, dass wir
hier in Spanien sind.
Eine zweite Besonderheit außer dem Enklaven-Status hat Llívia aber auch zu bieten. Neben dem Rathaus befinden sich in einem Museum die Überreste der wohl ältesten Apotheke Europas, die vermutlich schon Anfang des 15. Jahrhunderts gegründet wurde. Historische Dokumente, die ihre Existenz belegen, reichen bis 1594 zurück. Wie gern würden wir sie uns anschauen, die alten Tiegel, Mörser und Gerätschaften aus verschiedenen Zeitepochen. Der Ladentisch, eine Bibliothek und sogar ein barocker Giftschrank sind erhalten geblieben, zudem das ganze Labor, hat man uns erzählt. Auf uns wartet jedoch eine Enttäuschung. Wegen Renovierungsarbeiten sind die kostbaren Hinterlassenschaften der einstigen Apotheke Esteva, die über Generationen im Familienbesitz war, zurzeit nicht zu sehen.
Dafür erblicken wir in der
Tourismuszentrale des Rathauses, wo
wir diese Auskunft bekommen, ein
grässliches Szenarium, dargestellt
durch farbenprächtig gekleidete
Figuren. Es handelt sich nach einer
in vielen Varianten erzählten
Legende um die Köpfung des Munussa
oder Munoza, im 8. Jahrhundert einer
der treuesten Gefolgsleute des
maurischen Herrschers Abderrahman
von Córdoba und in dessen Auftrag
Gouverneur der Cerdagne mit Llívia
als damaliger Hauptstadt. Der
Unglückselige war in die Christin
Lampègia verliebt, die Tochter von
Eudis, dem Herzog von Aquitanien.
Dieser hatte Munussa die Hand seiner
Tochter wohl aus machttaktischen
Erwägungen unter der Bedingung
versprochen, dass er sich taufen
lasse. Munussa ließ sich darauf ein
und zog sich deshalb die Wut
Abderrahmans zu, der das als Verrat
betrachtete und ein starkes
Mauren-Corps nach Llívia schickte.
Das Liebespaar wurde nach kurzer
Flucht gefangen und Munussa getötet.
Die schöne Lampègia wurde zwar
verschont, landete aber in einem
maurischen Harem in Damaskus. Ein
riesiges Mosaik an einer Häuserwand
in Llívia erinnert heute noch an
sie.
Nachdem wir der beklemmenden
Figurengruppe im Rathaus den Rücken
gekehrt haben, stoßen wir beim
Weiterschlendern auf ein Schild, das
zur Erläuterung der Stadtgeschichte
die Mythologie der Antike
heraufbeschwört. So soll der
Halbgott Herakles, nachdem er die
Rinder des Riesen Geryon gestohlen
hatte, kurze Zeit in Llívia Rast
gemacht und den Ort gegründet haben.
Tatsächlich waren es aber die Römer,
die einst eine Festung namens Julia
Lybica im Tal des Flusses Segre
errichteten und damit den Anstoß zur
Entwicklung von Llívia gaben.
Überreste des antiken Kastells sind
noch immer oberhalb der Stadt zu
sehen. Ein Rundweg mit zehn
Stationen bringt Neugierigen auch
die anderen Epochen in der
Vergangenheit des Städtchens nahe.
Seit 1982 lockt der Ort Besucher
aber nicht durch durch seine
ungewöhnliche Geschichte, sondern
auch durch ein kulturelles Highlight
an. Jahr für Jahr findet in Llívia
ein großes Musikfestival statt.
Überall sehen wir schon die Plakate,
die auf die 30. Auflage der
Veranstaltung hinweisen. Klassisches
von Bach und Schubert, Vivaldi und
Mozart sowie amerikanische
Spirituals werden in wenigen Wochen
in der Kirche zu hören sein, die
jetzt noch still in der Sonne liegt.
Ob Katalanisch, Spanisch oder
Französisch
– das
spielt in der internationalen Welt
der Klänge dann sicher keine Rolle.
Für uns, als wir jetzt vor der
Weiterfahrt noch ein Brot kaufen
wollen, aber schon. Wir bemühen
deshalb unsere paar Brocken
Spanisch: „Un pan, por favor!”
Informationen
www.llivia.org (katalanisch)
Anreise
Llívia ist von der französischen Seite aus über die D 33 und die Ortschaften Egat und Saillagouse zu erreichen, vom wenige Kilometer entfernten spanischen Puigcerdá gelangt man über die N 152 in die Enklave.
Lektüre
Pyrenäen. Handbuch für individuelles Entdecken. Michael Schuh, Reise Know -How Verlag Bielefeld, 2010