Zahlreiche bunte Bändchen winden
sich um die eisernen Gitterstäbe der
Umzäunung und flattern sachte im
Wind. „Reapertura ya
–
Wiedereröffnung jetzt” ist darauf zu
lesen. Da, wo wir nun stehen, haben
sich wenige Tage zuvor mehr als
tausend Menschen zu einem
nachdrücklichen Appell versammelt:
Sie kämpfen dafür, dass die
internationale Bahnlinie zwischen
Frankreich und Spanien mitten in den
Pyrenäen wieder in Betrieb genommen
wird – und
damit auch ihr einstiges Prunkstück,
der Bahnhof Canfranc, wieder zum
Leben erwacht.
Wie ein schlafendes Dornröschen liegt das monumentale Jugendstilgebäude mit klassizistischem Einschlag, das gerade restauriert wird, derzeit noch zwischen weitgehend verrosteten Gleisen. Wer den winzigen Ort Canfranc-Estación mit nicht einmal 700 Einwohnern im Tal des Aragón südlich des Somportpasses durchfährt, kann es kaum übersehen. Mit einer Länge von 241 Metern war dieser Bahnhofsbau einst der größte in Spanien und der zweitgrößte in ganz Europa. Nur der Leipziger Bahnhof übertraf ihn mit fast 300 Metern noch.
Der spanische König Alfonso XIII.
und Gaston Doumergue, Präsident der
französischen Republik, übergaben
den prachtvollen Bau an der
Eisenbahnstrecke von Pau in
Frankreich bis ins spanische
Zaragoza am 18. Juli 1928 seiner
Bestimmung.
Obwohl der Bahnhof aus Platzgründen auf spanischem Boden gebaut wurde, war die doppelte Nationalität vertraglich festgelegt: Paris und Madrid sollten einander auf dem Schienenweg näher rücken. „Es gibt keine Pyrenäen mehr”: Mit diesen Worten hat der spanische Monarch der Überlieferung nach die Bahnverbindung bejubelt, die die Gebirgskette überwindet.
Im Inneren des Bahnhofs gab es zu diesen frühen Glanzzeiten auch ein Nobelhotel und Restaurants. Reisende, die länger blieben, konnten auf einen angenehmen Aufenthalt mit Bergblick zählen. Um einen kurzen Zwischenstopp in Canfranc kam ohnedies niemand herum – wegen der unterschiedlichen Gleissysteme beider Länder. Weil die französische Normalspur hier von der spanischen Breitspur abgelöst wurde, mussten die Fahrgäste in einen anderen Zug umsteigen, nachdem sie in dem edlen Empfangsgebäude ihre Grenzformalitäten erledigt hatten.
Doch die internationale Bahnstrecke
sollte nur wenige Jahrzehnte in
Betrieb bleiben: Sie wurde von
Anfang an bei weitem nicht so
intensiv genutzt wie erhofft. Der
prachtvolle Bahnhof in dem Örtchen
am aragonesischen Zweig des
Jakobswegs erwies sich schnell als
völlig überdimensioniert.
Mehrmals wurde die internationale Verbindung unterbrochen, zunächst infolge des Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1940. Nachdem die Strecke wieder befahrbar war, passierten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche jüdische Emigranten auf der Flucht vor den Nazis Canfranc. Letztere nutzten diesen Schienenweg zum Transport für Gold, mit dem sie kriegswichtige Rohstoffe wie Wolfram aus Portugal und Spanien bezahlten.
1944 bis 1948 brach die Verbindung zwischen Spanien und Frankreich erneut vorübergehend ab. Nachdem der Zugverkehr wieder aufgenommen worden war, kam der Bahnhof in den 60-er Jahren auch als Kulisse für den Film „Dr. Schiwago” nach dem Roman von Boris Pasternak zu Ehren..
1970 stellte die französische Seite
den Verkehr nach einem Zugunglück
jedoch endgültig ein: Nachdem ein
mit 320 Tonnen Mais beladener
Güterzug den Berg ungebremst
herabgerollt war und die Brücke von
l‘Estanguet zum Einsturz gebracht
hatte, wurde sie einfach nicht mehr
aufgebaut. Das Relikt der einst so
stolzen Verkehrspläne und
hochgespannten Erwartungen ist
dürftig: Nur zweimal am Tag noch
fahren heute Regionalzüge von
Canfranc nach Zaragoza und zurück.
Zu gern würden wir einen neugierigen Blick in das Innere des Bahnhofs mit seiner wechselvollen Geschichte werfen. Doch das Bauwerk ist wegen der Renovierungsarbeiten, die wohl noch Jahre andauern, derzeit abgesperrt. Wie es früher darin aussah, spiegelt jedoch ein aufwändiges Projekt der deutschen Fotografen Matthias Maas und Stefan Gregor mit beeindruckenden Bildern wider: Seit 1996 haben sie den Bahnhof immer wieder abgelichtet, die einst pompöse Innenausstattung mit ihrem prunkvollem Jugendstildekor in ihren Fotos festgehalten.
Welch gewaltige Dimensionen die gesamte Bahnhofsanlage in knapp 1200 Metern Höhe hatte, wird uns bewusst, als wir das Außengelände durchstreifen. Mehr als zwei Dutzend Geleise verrosten zwischen Grasbüscheln und Gestrüpp. Alte hölzerne Schlafwagen, in denen noch die Reste der Stockbetten zu erkennen sind, und Waggons mit morschen Böden verrotten auf den Schienen, allesamt der Witterung schutzlos preisgegeben.
Verlassen liegen die einst sorgsam
gestalteten Bahnsteige da. Über
unterirdische, dämmrige
Verbindungsgänge, in denen unsere
Schritte hallen, gelangen wir von
einem zum anderen. Stille liegt über
dem weiten Gelände, das nur hin und
wieder ein paar faszinierte
Besucher durchstreifen.
Auch die zahlreichen Schuppen und verfallenden Hallen erinnern noch an die besseren Zeiten des Bahnhofs. Ein Stapel Briketts in einer Ecke scheint noch von der Ära der Dampfloks zu künden, zerschlissene Sitzbänke mit hölzernen gedrechselten Beinen von der aufwändigen Ausstattung. Wie viele Jahre mag der Haufen leerer Sektflaschen schon auf dem Boden verstauben?
Während der einzigartige Bahnhof nach Ende der Bauarbeiten als Luxushotel aus seinem Dornröschenschlaf erwachen soll, dauert das zähe Ringen um eine mögliche Wiedereröffnung der internationalen Zugstrecke jedoch noch an.
Dass diese Verbindung wegen des
stark anschwellenden Güter- und
Personenverkehrs zwischen Spanien
und den nördlicheren Ländern
sinnvoll und auch wirtschaftlich
wäre, hat der Schweizer Jürg Suter
in einer Diplomarbeit nachgewiesen
– ganz im
Einklang mit den Leitlinien für die
Europäische Verkehrspolitik, die die
Europäische Kommission in einem
Weissbuch skizziert hat. Außerdem
könnte die Nutzung des Schienenwegs
die Gebirgslandschaft vor der
Umweltbelastung durch den Lastwagen-
und Autoverkehr bewahren, die seit
Eröffnung des Straßentunnels durch
das Somport-Massiv vor wenigen
Jahren stark gestiegen ist.
Der brach liegende Abschnitt der Bahnstrecke zwischen Oloron und Bedous wird zurzeit in Schuss gebracht. Der Lückenschluss auf den restlichen 32 Kilometern bis Canfranc steht auf französischer Seite danach aber immer noch aus.
Die spanische Organisation CREFC
(Coordinadora para la Reapertura del
Ferrocarril Canfranc-Olorón), die
unter ihrem Dach Gewerkschaften,
Umweltgruppen und Bürgerinitiativen
bündelt, kämpft seit vielen Jahren
gemeinsam mit ihrer französischen
Schwesterorganisation Créloc (Comité
pour la Réouverture de la Ligne
Oloron-Canfranc), für eine erneute
durchgehende Zugverbindung zwischen
Pau und Zaragoza. Auch die
Regionalregierungen von Aragón in
Spanien und Aquitaine in Frankreich
verfolgen dieses Ziel.
Am Engagement, es eines Tages zu erreichen, fehlt es nicht. Genau 82 Jahre nach der feierlichen Eröffnung der Strecke mit dem prachtvollen Bahnhof, am 18. Juli 2010, haben viele Hände aus beiden Ländern das Schleifenmeer geknüpft: „Reapertura ya.”
Siehe auch: Fromage, Fromage (Zwischen Glas und Gabel)
Informationen
-
Turismo Aragon
Glorieta Pío XII
Torreón de la Zuda
50003 Zaragoza
Tel. (00 34) 9 02 47 70 00 -
Spanisches
Fremdenverkehrsamt
Kurfürstendamm 63
10707 Berlin
Tel. (0 30) 88 26-0 oder (0 61 23) 9 91 34
Internet
- www.canfranc.de (Seite der Fotografen Matthias Maas und Stefan Gregor )
Lekture
- Pyrenäen. Handbuch für individuelles Entdecken. Michael Schuh, Reise Know -How Verlag Bielefeld, 2010.
- Inwertsetzung einer internationalen Bahnlinie durch die zentralen Pyrenäen, Bedürfnis- und Umsetzungsstudie für den Personen- und Güterverkehr auf der Linie Zaragoza - Canfranc - Pau, Diplomarbeit , Universität Bern, Jürg Suter, 2007