Es ist eine seltsame Art von
Knurren. Kurze Laute ertönen in
rascher Folge, und gar nicht mal
besonders laut. Plötzlich hebt sich
der mächtige Kopf, und der massige
Körper wirft sich nach vorn. Der
Sinn der dicken Metallstange, die
ein Stück weit hinter dem
eigentlichen Zaun angebracht ist,
erschließt sich uns nun ohne
Zweifel. Wir haben den Bewohner des
Geheges, der uns am nächsten ist,
durch unser Innehalten
offensichtlich beim Fressen gestört.
Das zeigt uns der Bison jetzt
deutlich. Vom Blick aus sanften
Kuhaugen keine Spur. Okay. Dann
treten wir eben ein paar Schritte
zurück. Bald widmet sich das große
Tier wieder seinem Mahl.
Wir können es mitsamt dem Rest der kleinen Herde aus der größeren Distanz nun in Ruhe betrachten. Die gebogenen Hörner. Das bartartig herabhängende Fellbüschel am Hals. Und das zottelige dichte Fell, das wie geschaffen scheint, um auch den rauhen Wintern in der Margeride, einer stark bewaldeten Granitlandschaft im französischen Zentralmassiv, standzuhalten. Hier, nahe beim kleinen Ort Sainte Eulalie, leben in einem 200 Hektar großen Schutzgebiet mehrere Gruppen europäischer Bisons.
Bis in das Mittelalter waren die
Tiere, die auch Wisente genannt
werden, in Europa weit verbreitet.
Wandmalereien, wie man sie
beispielsweise in der Höhle von
Lascaux findet, bezeugen, dass sie
schon in vor- und
frühgeschichtlicher Zeit zur Fauna
zwischen dem Atlantik und dem Ural
gehörten. Doch nach dem Ersten
Weltkrieg waren die großen
Wildrinder so gut wie ausgerottet.
Nur dank der Anstrengungen von Tier-
und Artenschützern gibt es weltweit
heute wieder rund 3800. Der größte
Teil von ihnen ist in Polen zu
Hause, im Nationalpark von
Bialowieza. Weitere in Freiheit
lebende Bisons gibt es auch in
Weißrussland, Russland und der
Ukraine. Auch Reservate tragen seit
Jahrzehnten dazu bei, ihr Überleben
zu sichern, und fördern ihre erneute
Ausbreitung – wie das in Sainte
Eulalie, das sich an den
europäischen Artenschutzprogrammen
beteiligt und auch der Forschung
dient.
Die ersten vierbeinigen Bewohner
wurden 1991 aus Polen dorthin
gebracht. Heute können Besucher den
halbwild lebenden kleinen Herden in
dem ausgedehnten Areal je nach
Witterung auf Kutsch- oder
Schlittenfahrten näherkommen und
ihre Lebensgewohnheiten beobachten.
Wer lieber zu Fuß unterwegs sein
will wie wir, kann auf einer etwa
einen Kilometer langen Strecke ein
Gehege umrunden. Auf den
Informationstafeln am Rand erfahren
wir eine Menge Wissenswertes über
Bison bonasus, wie der europäische
Kollege des amerikanischen Bison
bison auf Lateinisch heißt. Zum
Beispiel, dass er mit einer
Widerristhöhe von bis zu zwei Metern
das größte Landsäugetier Europas
ist. Männliche Exemplare bringen bis
zu einer Tonne und weibliche immer
noch bis zu 600 Kilogramm auf die
Waage.
Von dem amerikanischen Bison
unterscheidet ihn vieles –
angefangen mit dem Lebensraum. Ein
dumpfes Beben im Erdboden, das aus
der Ferne herangrollt, dann
vieltausendfaches Hufedonnern unter
einer dichten Staubwolke: Das ist
das Bild, das der Schriftsteller
Karl May vom Herannahen einer
Bisonherde in den weiten Ebenen des
Wilden Westens gezeichnet hat. Und
das ist das Bild, das in Europa
immer noch die Vorstellung von den
Tieren prägt, auch wenn Wisente so
niemandem jemals vor die Augen
kommen.
Denn die europäischen Bisons stapfen
nicht über ausgedörrtes offenes
Präriegelände, sondern leben in
kleinen Herden in Laub-, Nadel- und
Mischwäldern. Dort vertilgen die
Schwergewichte im Schnitt etwa
30 Kilogramm an Gräsern und
Kräutern, Sträuchern und Laub pro
Tag, bei großem Hunger darf es auch
mal fast das Doppelte sein.
Wer sie mit den amerikanischen
Bisons vergleichen möchte, die in
ihrer Heimat in großen Verbänden
leben, hat dazu in Sainte Eulalie
auch Gelegenheit. Einige dieser
Tiere, die massiger sind als die
europäischen Verwandten, kürzere
Hörner haben und den Kopf gesenkter
halten als Wisente, sind dort
ebenfalls zu sehen.
Ein dem Reservat angegliedertes
Museum zeichnet die Geschichte der
europäischen Bisons ausführlich
nach. Unvergessen bleibt hier auch
der Bison Postum, den der damalige
polnische Präsident Lech Walesa dem
französischen Staatspräsidenten
Francois Mitterand im Juni 1991 als
Geschenk geschickt hatte und der
1998 im Reservat von Sainte Eulalie
starb: Sein präparierter Kopf hängt
an der Wand. Im Museum können wir
aber auch einem kompletten Bison
ohne Furcht aus nächster Nähe in die
Augen schauen, obwohl uns kein
Gitter von ihm trennt: Das mächtige
Tier ist ausgestopft und durch
nichts aus seiner erstarrten Ruhe
aufzuschrecken.
Informationen
Anreise
über die Autobahn 75, Abfahrt St. Chély-d-Apcher. Weiter über N 106, D 987 und D 14 nach Ste. Eulalie.
Anschrift: 48120
Sainte-Eulalie-En-Margeride,
Departement Lòzere
France
Tel.
04 66 31 40 40
Internet
www.bisoneurope.com
www.lozere.com
Atout France - Französische Zentrale für Tourismus, Postfach 100128, 60001 Frankfurt am Main, www.rendezvousenfrance.com