Blutiges Schauspiel vor den Tapas

Der Stierkampf ist auch in Südfrankreich seit langem umstritten - und findet doch noch in zahlreichen Städten statt

Von Renate Brämer

Sekundenlang steht das Tier mit den hellen Flecken im dunklen Fell reglos auf der Rampe. Nur zögernd setzt es sich in Bewegung, irritiert vom Licht und dem unbekannten Ort. Der Jungstier weiß nicht, was mit seinem ersten Schritt in die Arena beginnt: die Choreografie seines unausweichlichen Todes, die etwa 20 Minuten später enden wird.

Auch wir wissen noch nicht, was auf uns zukommt. Mit einer Menge Naivität und einer vagen Schilderung von  unblutigen Stierkämpfen" in Südfrankreich im Ohr sind wir hier gelandet, in der Veranstaltungshalle des Küstenorts Palavas-les-Flots nahe Montpellier. Oft haben wir schon Urlaubstage in dem 5500 Einwohner zählenden Städtchen am Mittelmeer verbracht: Schöne ausgedehnte Sandstrände hat es zu bieten und flache Lagunen, in denen Scharen von Flamingos mit rosafarbenem Gefieder gelassen umherstaksen. Und in der Kuppel des ehemaligen Wasserturms dreht sich langsam ein Restaurant, das einen eindrucksvollen Panoramablick in die Weite erlaubt.

Doch Anfang März ist noch nicht viel los in der Kleinstadt, in der im Sommer das Strandleben pulsiert. Da verspricht der spanische Bodega-Abend mit Wein und Tapas in der salle Bleue nicht nur den Einwohnern Abwechslung. Vorausgehen soll eine Novillada, die seit Tagen mit Plakaten und Lautsprecherdurchsagen angekündigt ist. Eine Veranstaltung bei freiem Eintritt, mit zwei jungen Männern und drei jungen Stieren, aber ohne picadores Lanzenreiter, die beim traditionellen Stierkampf die Tiere verletzen, um sie zusätzlich zu schwächen, sind also nicht dabei.

Ende eines Jungstiers: Bei der Novillada üben Nachwuchstoreros den klassischen Stierkampf.Ein Indiz dafür, dass die drei Jungstiere die Arena lebend verlassen werden, ist das aber nicht, begreifen wir schnell. Mit den courses à la cocarde der Provence und des Languedoc, bei denen flinke Läufer mit viel Geschick Trophäen von den Hörnern von Stieren oder Kühen erobern, oder den courses landaises aus der Gegend von Bordeaux, von denen wir später erfahren, hat die Veranstaltung hier nichts zu tun. Sie ist ein Übungsfeld für den Nachwuchs im klassischen Stierkampf. Deshalb fließt auch Blut.

Einer der beiden Schüler einer bekannten Stierkampfschule in Arles hebt jetzt zum Auftakt das pinkfarbene Tuch. Der etwa dreijährige Stier bewegt sich zaudernd darauf zu - und ein sehr ungleicher Kampf beginnt. Nur selten kommen die Hörner des nicht mal brusthohen Tieres, das stets der Bewegung des Gewebes folgt und in dem jungen Mann nicht die eigentliche Gefahr erkennt, dem Stierkampflehrling bedrohlich nahe. Muss der dann doch mal an den Rand der Arena flüchten, sind erfahrene Helfer schnell zur Stelle. Sie verwirren das Tier und lenken es aus mehreren Richtungen ab wohin soll es sich nun orientieren?

Der Jungstier dagegen kann nicht entrinnen. Bald rinnt Blut aus seinen ersten Wunden. Die Banderillas, bunt geschmückte Spieße mit Stahlwiderhaken an einem Ende, sitzen nun schmerzhaft in seinem Fleisch. Jeder Schritt wird jetzt zur Qual. Der Nachwuchstorero führt im Scheinwerferlicht die Regie dabei: Er lässt das leidende Tier nicht mehr zur Ruhe kommen bis zu dem geplanten Ende mit tödlichen Stichen.

Oben auf der Tribüne beißt ein kleines Mädchen in sein Brot. Vor der hintersten Bankreihe verfolgt eine Riege älterer Männer stehend das Geschehen. Ganz vorn stützen ein paar Jungen mit Kapuzenpullis ihre Arme auf das Eisengeländer. Zwei Frauen plaudern angeregt, ohne einen Blick zur Arena. Ein gemischtes Publikum: Schwer zu sagen, wer zu den eingefleischten Stierkampffans gehört, die auch in Palavas ihren Club haben, und wer vor allem wegen des anschließenden Bodega-Abends gekommen ist. Viele Plätze sind auch frei geblieben.

Ein einziger Moment scheint aber die meisten Zuschauer zu einen: Als ein Helfer immer wieder auf den gequälten Jungstier einsticht, damit der nach einem missglückten Gnadenstoß endlich sterben kann, schrillen missbilligende Pfiffe durch den Saal bis der Körper des Tieres nach einem letzten Zucken zur Seite fällt und reglos liegenbleibt. 

Der ganze Stierkampf basiert auf der Tapferkeit des Stiers, seiner Einfalt und seinem Mangel an Erfahrung", hat Ernest Hemingway, dessen anfängliche Skepsis schnell der Faszination gewichen war, 1932 in seinem Buch Tod am Nachmittag" geschrieben. Einfalt und Mangel an Erfahrung mit der tödlichen Situation hat der kleine Stier, dessen Kadaver ein Pferd nun nach mäßigem Beifall aus der Halle schleift, zur Genüge unter Beweis gestellt. Die Art von Tapferkeit, die laut Hemingway darin besteht, sich trotz aller Schmerzen immer wieder auf diejenigen zu stürzen, die sie verursacht haben, nicht.

Dieser Jungstier habe die ärgerliche Angewohnheit gezeigt, beim kleinsten Schritt immer wieder in die Knie zu gehen, wird es deshalb in der Tageszeitung Midi Libre am Tag nach der Veranstaltung heißen. Mit Bedauern für den ersten Stierkampflehrling, der wegen der matten Schau nicht die ganze Spannbreite seines fragwürdigen Könnens zeigen konnte und deshalb auf ein Ohr als Trophäe verzichten muss. Dafür aber voller Lob für den zweiten Schüler aus Arles, der nach diesem Maßstab mehr Glück und ein kämpferischeres Exemplar erwischt hat und deshalb auch den dritten Jungstier zu Tode bringen darf.

Mit der Eleganz eines Tänzers präsentiert sich dieser knapp Zwanzigjährige am Abend der Novillada selbstbewusst den Zuschauern. Mal funkeln die silbernen Knöpfe seines Anzugs, mal die hinter dem Rücken verborgene Klinge seines Degens auf, wenn sie das Blitzlicht eines Fotografen trifft. Mit akribisch einstudierter Gestik lenkt der Torero einen temperamentvollen schwarzen Jungstier durch das gittergesicherte Rund. Schaum steht vor dem Maul des längst verletzten Tieres. Sein Brüllen verliert sich in der lauten Musik, die den Stierkampf begleitet. Krachend prallen die Hörner des Stiers dann gegen einen hölzernen Schutzschirm. Seine Heftigkeit sorgt für die erwünschte Show, die das erste Tier verweigert hat, ihm selbst nützt sie nichts. Es sind nur noch wenige Minuten bis zu seinem Tod.

Längst sind Stierkämpfe nicht nur in Spanien, sondern auch in Südfrankreich heftig umstritten. Doch noch immer gibt es dort mehr als 60 Städte, die auf das blutige Spektakel nicht verzichten. Die Novillada ist in Palavas erst der Auftakt zur Saison. In der mehr als 4500 Zuschauer fassenden Arena, neben der jeden Samstag die Flohmarkthändler ihre Stände aufbauen, alte Kupferkessel ebenso wie gebrauchte Taschenbücher und CDs den Besitzer wechseln, wird es später, im Mai, zwei Corridas geben. Bei jeder von ihnen finden sechs ausgewachsene Stiere ihren langsamen Tod. Dann werden auch picadores mit ihren Lanzen dabei sein. Mehr Schmerz, mehr Blut, mehr Dramatik, das kostet dann auch. 85 Euro auf den besten Plätzen.

Erst nach der Novillada, die gratis zu sehen war, zücken die Zuschauer ihre Portemonnaies: Die Halle hat sich in eine große Bodega verwandelt. Wein rinnt in die Becher, nach Wunsch weiß, rot oder rosé, und spanische Spezialitäten werden geordert. Die Behelfsarena wenige Meter weiter ist wieder leer und vergessen.

Siehe auch: Antigone in Glas und Stein

 

Anreise


  • Mit dem Auto über die französische Autobahn Mulhouse – Lyon (A7), hinter Orange Wechsel auf die A9 (Languedocienne) bis Montpellier, dann weiter nach Palavas
  • mit dem Flugzeug (Flughafen Montpellier)  oder
  • mit der Bahn per TGV-Verbindung nach Montpellier.

Lektüre


  • Ernest Hemingway: Tod am Nachmittag, rororo 4. Auflage 2007

Internet


 

Javascript is required to view this map.